Netanjahu ruft: Verlasst Frankreich!
Nach dem Attentat von Lyon wurden jüdische Bürger erneut zur Einwanderung nach Israel aufgefordert
Die Abstimmung war kurz; das Thema ist das einzige derzeit in Israels Politik, dass zwischen Regierung und Opposition unstrittig ist: Am Dienstag beschloss die Regierung, 100 Millionen Schekel - rund 24 Millionen Euro - zusätzlich für die Förderung der Einwanderung von Juden aus Frankreich auszugeben. »Es ist in der derzeitigen Situation wichtig, den französischen Juden zu signalisieren, dass es einen sicheren Hafen für sie gibt«, sagt ein Sprecher von Regierungschef Benjamin Netanjahu, der direkt nach dem Attentat auf ein Gaswerk in der Nähe von Lyon erneut die Juden in Frankreich zur Auswanderung aufgerufen hatte. Die französische Staatsanwaltschaft stuft den Anschlag von Lyon trotz anderslautender Beteuerungen des Attentäters als Terrorismus ein, von antisemitischen Motiven ist aber bisher keine Rede.
Es ist mittlerweile ein Automatismus. Immer wieder fordern israelische Regierungsmitglieder nach Gewalttaten in Frankreich die Auswanderung. Vor allem junge französische Juden suchen nach einem Ausweg. »Das Leben ist unerträglich geworden«, sagt der 23-jährige Jitzhak Cohen aus Paris, der zur Zeit ein Auslandssemester in Jerusalem absolviert. »Ich kann niemandem sagen, dass ich Jude bin. Und wenn ich sage, dass ich pro Israel bin, dann bin ich erledigt.« Es sind Aussagen, die in diesen Tagen immer wieder zu hören seien, so Esther Levy von der für die Auswanderung, auf Hebräisch Alijah genannt, zuständigen Jewish Agency: »Die Zahl der Einwanderer aus Frankreich ist seit dem Anschlag auf ›Charlie Hebdo‹ rapide angestiegen.« Allein im ersten Halbjahr seien 7000 Anträge aus Frankreich bearbeitet worden - so viele wie nie zuvor. Mittlerweile führt Frankreich die Einwanderungsstatistik an.
Allerdings: Es ist unklar, ob dies allein auf die Anschläge zurückzuführen ist. Denn in den vergangenen Jahren hatte eine Reihe von Organisationen ihre Aktivitäten verstärkt. Mit Reiseangeboten versucht man, jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Leben in Israel nahe zu bringen. Auf Informationsabenden in vielen französischen Städten berichten Funktionäre der Jewish Agency zudem regelmäßig über die Vielzahl von Hilfestellungen, die die Entscheidung zur Auswanderung erleichtern sollen.
Diese Hilfestellungen, ein weitreichendes Paket aus Steuererleichterungen, finanziellen Zuwendungen und Beratungsleistungen, unterscheiden sich von Herkunftsland zu Herkunftsland und orientieren sich an den Vorgaben der Politik. So bekommen französische oder russische Juden größere Hilfestellungen als Einwanderer aus den Vereinigten Staaten. Bei privaten Organisationen, die versuchen, Einwanderern beim Start ins neue Leben zu helfen, ist das regelmäßig Anlass für Missmut: Es sorge von Beginn an für soziale Ungleichheit. Und verschiebe nur die Härten der Zukunft. Denn für viele der Einwanderer erweist sich das Leben in Israel als keineswegs einfach. Sie werden nach dem Auslaufen der staatlichen Hilfen mit hohen Lebenshaltungskosten konfrontiert, auch die Jobsuche ist nicht einfach.
Und viele der Neuankömmlinge aus Frankreich kommen ohne hebräische Sprachkenntnisse ins Land; auch die Englischkenntnisse sind häufig gering. »Es ist ein Problem«, sagt Levy von der Jewish Agency. »Wir ermuntern die Menschen dazu, sich erst einmal Sprachkenntnisse anzueignen. Übereilte Entscheidungen helfen weder den Einwanderern noch Israel.«
Dies ist auch der Grund, warum die wiederkehrenden Regierungsaufrufe zur Auswanderung bei den zuständigen Stellen auf Unmut stoßen. Wenn es nicht wirklich ganz dringend sei, müsse die Verlegung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Land sorgsam geplant werden, sagt Levy. »Denn sonst ist man ein Problem los, und hat viele andere.«
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