Blick über den orthodoxen Tellerrand

Eine Debatte, endlich! Die Legitimationskrise der Wirtschaftswissenschaften ist tief. Nun geraten vermeintliche Gewissheiten ins Wanken

  • Robert Pausch
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn in einigen Tagen die Bewerbungsfrist für das Wintersemester endet, werden wieder tausende Abiturienten in ganz Deutschland auf eine Zusage für einen Studienplatz in Volkswirtschaftslehre warten. Im Oktober sitzen viele dann Einführungsveranstaltungen zur Makroökonomie, später belegen sie dann Kurse zur Wirtschafts- und Finanzpolitik. Doch: Ob die zukünftigen Erstsemester dann in etwa das gleiche lernen werden, was ihren Kommilitonen aus den höheren Semestern in den Jahren zuvor beigebracht wurde, das scheint heute zumindest ungewiss. Denn in der Wirtschaftswissenschaft rumort es. Mehr noch: Die Disziplin steckt in einem veritablen Umbruch. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt die Auswertung einer Umfrage unter 1000 deutschen Ökonomen, die jüngst in der »Süddeutschen Zeitung« veröffentlicht wurde.

Rund die Hälfte der Befragten gab an, dass sich ihre Disziplin in einer Legitimationskrise befinde, mehr als 60 Prozent kritisierten die Modellgläubigkeit der Wirtschaftswissenschaft. Und eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent erklärte, dass sich die Ökonomie stärker interdisziplinär orientieren und auf Erkenntnisse der Psychologie, Soziologie oder Geschichtswissenschaft zurückgreifen solle.

Ein Bruch mit den Gewissheiten?

Bemerkenswert sind diese Einsichten nun insofern, als dass sie einen Bruch mit dem Set an hergebrachten Grundüberzeugungen und Gewissheiten andeuten, mit denen die Wirtschaftswissenschaft für gewöhnlich ihren Gegenstand betrachtet. Etwas vereinfacht sind dies die Annahmen, dass Individuen stets nutzmaximierend handeln, ein freier Markt zu einer optimalen Allokation der Ressourcen führt und sich die Welt mittels mathematischer Modelle am besten erfassen lässt – die Glaubenssätze der Neoklassik. Als während der Ölkrise in den 1970er Jahren der Keynesianismus versagte, da seine wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumente die Stagflation – eine hohe Arbeitslosigkeit bei gleichzeitiger Inflation – nicht recht zu bekämpfen wussten, stieß die neoklassische Theorie in dieses Vakuum. Ihre Annahmen und politischen Empfehlungen lagen konträr zur nachfrageorientierten »General Theory« Keynes‘ und entfalteten in den folgenden Jahrzehnten eine beispiellose Dominanz.

Begünstigt durch das wissenschaftliche Bewertungssystem von Zitationsquoten und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften wurde die Forschung zunehmend homogenisiert und konkurrierende Ansätze an den Hochschulen kaum mehr gehört. Auch die universitäre Lehre wurde in der Folge stark vereinheitlicht und auf einige, zentrale Lehrbücher zugeschnitten. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker, einer der einflussreichsten Vertreter seiner Zunft, brachte dieses neue Selbstverständnis der Ökonomie brachial auf den Punkt: Wirtschaftswissenschaft definiere sich nicht über ihren Gegenstand, sondern durch ihre Methode, den neoklassischen Ansatz. Und Paul Samuelson erhob in seinem Lehrbuch Economics, das weltweit als das einflussreichste Einführungswerk gilt, die Annahmen der rationalen Akteure und effizienten Märkte gar zu »Kernwahrheiten der Ökonomie«. Forderungen nach einer kritischen Methodenreflexion und theoretischer Vielseitigkeit verhallten ungehört im Äther. An vermeintlichen Wahrheiten ließ sich nun einmal schwer rütteln.

Der Crash als Chance

Indes: Als 2008 das globale Wirtschaftssystem beinahe kollabierte, geriet auch die Wirtschaftswissenschaft zunehmend unter Druck. Denn trotz ausgefeilter Prognoseinstrumente hatte kaum ein Mainstream-Ökonom die Krise kommen sehen. Gleichsam öffnete sich ein Gelegenheitsfenster, in dem Kritik an der theoretischen Orthodoxie und methodischen Engführung der Disziplin zumindest gehört wurde. Der Chefvolkswirt der Bank of England, Andy Haldane, beispielsweise erklärte, es sei notwendig, zentrale Grundannahmen der Wirtschaftswissenschaft zu überdenken und Alan Greenspan, als Vorsitzender der US-Notenbank einer der bedingungslosesten Apologeten der neoklassischen Lehre, räumte in einer vielbeachteten Rede ein, dass seine Weltsicht offenkundig »Schwachstellen« aufgewiesen habe.

Und auch die Studierenden nutzten das Momentum der kollektiven Irritation. Weltweit gründeten sich Gruppen und Initiativen, die nicht mehr bereit waren, die universitären Curricula wortlos hinzunehmen. 27 Zusammenschlüsse sind in Deutschland mittlerweile im »Netzwerk plurale Ökonomik« organisiert, das sich dem Ziel verschrieben hat, die »geistige Monokultur« der Wirtschaftswissenschaft aufzubrechen. Die Heterodoxen, wie sie sich selbst nennen, kritisieren so etwa den unbedingten Modellierungs- und Mathematisierungsfetisch der Neoklassik, der durch seine rigiden Vorstellungen von Wirtschaftsakteuren zwangsläufig bestimmte Dimensionen der Realität außer Acht lassen müsse. Alles, was nicht in das mathematische Modell passt, würde in der Mainstream-Ökonomie ausgeklammert. Abschaffen wollen die Kritiker die Neoklassik jedoch nicht. Denn natürlich müssen Theorien von der Realität abstrahieren und bestimmte Annahmen treffen. Doch problematisch, ja skandalös sei es, wenn eine solch spezifische Perspektive als der einzig gangbare Weg zur Erforschung der Wirklichkeit verkauft werde.

Das Ziel lautet also Pluralismus: Ein Blick über den orthodoxen Tellerrand, mehr Raum für Debatten und Streit. Die Konzepte sind dabei vielfältig. In den Hochschulgruppen diskutierten die Studierenden über Post-Keynesianismus, Verhaltensökonomie, Postwachstums-Ökonomik oder die Theorien der Wiener Schule. Im Zentrum steht das Interesse an realen ökonomischen Prozessen und die Frage, wie sich diese mittels wirtschaftswissenschaftlicher Konzepte am zutreffendsten beschreiben lassen.

Auch die Geschichte, bislang in der Ökonomie kaum beachtet, möchten die Studierenden wieder stärker in Forschung und Lehre einbezogen wissen. Welche historischen Lehren lassen sich aus Krisen ziehen? Und welcher ideengeschichtlichen Tradition entstammen überhaupt die Theorien der VWL? Dass eine historische Perspektive durchaus auch im Mainstream für Furore sorgen kann, hat der französische Ökonom Thomas Piketty mit seiner Analyse der Vermögensverteilung in 27 Ländern seit dem 18. Jahrhundert unlängst eindrucksvoll nachgewiesen. Auch er zählt zu den prominenten Advokaten der globalen Heterodoxie-Bewegung.

Die Vorboten eines breiten Umdenkens?

Und auch an den deutschen Universitäten scheint sich etwas zu tun. Neben den selbstorganisierten Seminaren und Konferenzen der Studierenden, gibt nun an immer mehr wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, etwa in Göttingen, Hamburg und Bayreuth, die Möglichkeit, Kurse zu belegen, die sich auf einem nicht-neoklassischen Weg der Wirtschaft nähern. In Bernkastel-Kues wurde im letzten Jahr die Cusanus-Hochschule gegründet, deren wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge dezidiert Perspektiven jenseits der Neoklassik aufzeigen sollen. Man wolle »ausdrücklich eine plurale Ökonomie lehren und damit eine Alternative zu den etablierten Wirtschaftsstudiengängen anbieten«, erklärte die VWL-Professorin und Vizepräsidentin der Hochschule Silja Graupe.

Dass dies die Vorboten eines breiten Umdenkens sein könnten, darauf könnten auch die Ergebnisse der Ökonomen-Befragung hindeuten: Rund 60 Prozent äußerten hier die Ansicht, dass die Kritik der Studierenden berechtigt sei. Ein erstaunlicher Wert, bedenkt man, dass noch vor wenigen Jahren die Zunft in ihrer Selbstgewissheit kaum anfechtbar schien.

Konkurrenz und Pluralismus als Triebfedern der Innovation und des Fortschritts – eigentlich sind dies zentrale Lehrsätze der neoklassischen Theoretiker, die seltsamerweise für ihre eigene Disziplin lange Zeit nicht galten. Dass eine Debatte wider den geistigen Monismus nun Raum zu greifen scheint, ist nur folgerichtig. Man mag der Wirtschaftswissenschaft wünschen, dass sie es mit der Vielfalt ernst meint.

Robert Pausch arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung

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