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Radau, Revolte, Rebellion oder Revolution

  • Lesedauer: 15 Min.
Die weltweite Aufbruchstimmung Ende der 1960er zeigte sich in Westberlin und Westdeutschland in der Rebellion der Jugend und Studenten gegen die Nazi-Generation, die Notstandsgesetze und den Krieg in Vietnam. Die Welt muss und kann verändert werden, war die einhellige Meinung. Ein Rückblick auf die Frontstadt Westberlin und die 68er Revolte von Burga Kalinowski.

Wie bin ich nur auf den Gedanken gekommen: Eine Reportage über Westberlin, 1968 und wie es ganz normale Leute erlebt haben. Ja, das ist ziemlich verwegen, sagt ein Kollege. Gibt ja so wenig darüber - und lacht. Ich nicht. Tatsächlich existieren x Bücher und noch mehr Artikel. Die halbe Stadt ist voll mit Kronzeugen, gewissermaßen. Tausende Leute mit tausenden verschiedenen Rückblicken. Und jeder hat recht. Erinnerung trägt immer einen Namen. Die Recherche ist fast schon die Geschichte - der Zufall ist mein Navigator durch diese Zeit.

Ich saß damals in meiner sicheren, abgesperrten und langweiligen DDR und guckte zu, als und wie es begann: Radau, Revolte, Rebellion - Revolution? Keiner wusste es. Möglich schien vieles und gemeint war alles.

Der politische Kalender des Jahres sieht aus, als wären Furien um die Erde gerast und hätten Fackeln des Aufruhrs geworfen, die der Welt Rache, Vergeltung und Gerechtigkeit bringen sollen. Im Auftrag von Klio, der Muse der Geschichte. Der Anspruch ist hoch und Anlässe gibt es mehr als genug: Vietnamkrieg, Black Panther, Neokolonialismus, Demokratischer Sozialismus, Tupamaros, Studentenbewegung, Nazigeschichte, Notstandsgesetze, Radikalenerlass. USA, Prag, Uruguay, Paris, Westberlin und Westdeutschland.

Die Formel 68 prägt Generationen und meint mehr als nur dies eine Jahr.

Donnerstag, 11. Juni 2015, Mariannenplatz 1a. Heute duften die Linden. Damals war Dezember, als die Geschichte des Hauses begann. Es ist ein Symbol geworden. Das Rauchhaus - eines der ersten besetzten Häuser Westberlins.

Nach der Besetzung am 8. Dezember 1971 und als Antwort auf die erste große Razzia im Rauchhaus im April 1972 entsteht in der Band »Ton Steine Scherben« ein Song. Rio Reiser singt: »Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da.« Dann der Refrain: »Doch die Leute im besetzten Haus riefen: ›Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!‹«

Das waren Immobilienspekulanten, die im und mit dem korrupten Abriss- und Baufilz des Westberliner Senats ihre Millionen machten. Fast ganz Kreuzberg, also das ärmliche SO36, stand auf der Liste: Abriss, Neubau, Höchstprofit. Der Oranienplatz sollte Autobahnkreuz werden. Ganze Straßenzüge ließ die Stadt dafür vergammeln. Besetzer und ihre Sympathisanten erklärten kategorisch und kampfbereit: »Lieber Instandbesetzen als Kaputtbesitzen.«

Nach einem Teach-in am 8. Dezember 1971 in der TU zum Tode von Georg von Rauch wollten die Teilnehmer das leerstehende Bethanien-Krankenhaus am Mariannenplatz besetzen - im Sinne des erschossenen Studenten. Rauch - gejagt wegen linksradikaler anarchistischer Umtriebe - war am 4. Dezember 1971 in der Eisenacher Straße in Berlin-Schöneberg von Zivilfahndern gestellt und bei einem Schusswechsel tödlich in den Kopf getroffen wurden. Bis heute ist von einer Killfahndung die Rede: Bei dem 24-jährigen Stadtguerillero wurde keine Waffe gefunden.

Den Zug der etwa 300 jugendlichen Besetzer konnte selbst ein Mega-Polizeiaufgebot nicht aufhalten. Der Senat musste verhandeln. Kinder und Jugendliche zogen ein. Triumph für die, die bisher Verlierer waren.

Mariannenplatz 1a ist heute immer noch ein Jugendprojekt - selbstverwaltet, selbstbestimmt.

Der Trägerverein heißt inzwischen »Georg von Rauch-Haus - Jugend- und Kulturzentrum Kreuzberg e.V.«

Um 19 Uhr soll Plenum sein, stand auf der Webseite. Wahrscheinlich fängt es später an, sagt ein Mädchen und stellt ihr Fahrrad ab. Vielleicht auch gar nicht. Aber wenn, dann dort im Zimmer.

Da steht ein großer Tisch, auf dem Ofen brät was, auf dem Gerüst vorm Fenster sitzt A., ein junger Mann aus Italien. Ja, die Geschichte des Hauses ist ihm bekannt. Die Ziele von damals sind auch die Ziele von heute. Schlimm für die Menschen. Immer noch nicht erfüllt die Forderung nach Gerechtigkeit und immer schwerer sei der Kampf gegen Ausbeutung, nun global. Nein, reden wollen sie nicht, nur wenn das Plenum sich einig wird dazu. Solange kann ich nicht warten. Schade, ich hatte gehofft, Kontakte zu einigen der Besetzer-Kinder von damals zu finden.

Immer wieder sehe ich mir das Foto an. Diese Kindergesichter. Schön, trotzig, bewegend. Vor allem ein Dokument dieser Zeit. Wenn alle vergessen haben, was mal war, wird das Foto erzählen, wie es war, damals am Mariannenplatz. »Signale des Aufbruchs« heißt der Bildband des Fotografen Siebrand Rehberg, in dem er Menschen in Kreuzberg vorstellt. 1971/72 fotografierte er die erste Jugendgruppe, die das Georg v. Rauch-Haus besetzte und dort lebte. »Die waren ja so stolz«, sagt Rehberg im Gespräch zu Hause am Fraenkelufer.

Der Fotograf erinnert sich: Die Aufnahmen der jungen Besetzer gehören zu seinen Anfängen. Eine Chronik der Kämpfe in Westberlin? »Auf jeden Fall ist Realität die Klammer meiner Arbeit.« Er sieht die Gegensätze. Seine Bilder zeigen Freiheit erster und zweiter Klasse, die dritte Klasse ist im Kommen.

Daran denkt der junge Mann aus Stade allerdings noch nicht, als er 1969 nach Berlin zieht. Er arbeitet als Drucker und findet schnell zur Fotografie, auch mit Unterstützung des 2014 verstorbenen Fotografen Michael Schmidt. »Westberlin zog mich magisch an - Kunst, Kultur, 1968 die Studenten. Demos und Diskussionen habe ich verfolgt und wusste: 68 ist noch lange nicht vorbei. Ich hatte Glück: Meine Eltern waren nicht in NS-Geschichte verstrickt. Ich musste nicht rebellieren.« Er hat die Rebellion festgehalten. Nicht nur: »Na selbstverständlich war das auch ein Teil meines Lebensgefühls: Die Faust erhoben, nicht ducken, sich wehren.«

Blick zurück - im Zorn vielleicht? Nein, Alltagsgeschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schnell vergessen die Deutschen Krieg und Judenmord. Jahre und Jahrzehnte später erst wird man über Verbrechen und Schuld reden und ebenso peinlich spät das Ende des Mordens Befreiung nennen - 1985 war das mit der berühmten Rede. Aber erstmal beginnt in Westdeutschland die gute Nachkriegszeit, auch in der Inselstadt.

In seinen Bildbänden über Kreuzberg der 70er Jahre hält der Fotograf Rehberg Zustand und Veränderungen fest. Während sich die kleinen Leute einrichten, während türkische Gastarbeiter langsam Fuß fassen und der Stadt ungewohntes Kolorit geben, schaufelte der Bund Marshall-Plan-Hilfen, Transferleistungen, Bundeshilfen, Steuererleichterungen, Subventionen nach Spree-Athen-West. Davon profitierten vor allem jene, die immer profitieren - ob zerstört wird oder wieder aufgebaut. Am Rande der prosperierenden Halb-Stadt finden aber auch andere Milieus als die reichen, mächtigen und korrupten ein Plätzchen: plüschig, gemütlich, piefig, schick und modern, ärmlich, proletarisch, alternativ. So viel Freiheit sollte sein: Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Westberlin mit seinen unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Biotopen war schließlich das Schaufenster der westlichen Welt, hatte eine Funktion als »Pfahl im Fleisch der DDR«, avancierte zum Leuchtturm der Freiheit. Die Freiheitsglocke schlug und dröhnte und Ernst Reuters genialer Propagandaappell »Ihr Völker der Welt« ließ nicht nur Westberliner ergriffen bibbern. So hat fast jeder ein Zipfelchen von der Zeitgeschichte, das ihm gefällt - und seine Gründe, zu handeln: kalte Krieger ebenso wie Wilmersdorfer Witwen, Künstler und jene, die zu 68ern werden, ob nach dem Attentat auf Dutschke oder am 4. November 1968 in der Schlacht am Tegeler Weg.

Kreuzberg, Kudamm, Kunst, Kommerz, Kommune - Westberlin teilte sich in Arm und Reich und Politik bot klug Ersatz für fehlende soziale Gleichheit: Buntheit, Vielfalt, Einfalt - und Konsum zum Beispiel. Das funktionierte, bis es nicht mehr so gut funktionierte: Die Brüche der Welt und des Landes zogen tiefe Spuren. Aufbruch. Irgendwann auch wieder Anpassung. Aber erstmal fing der Anfang an. Unvergesslich für die, die es erlebt haben:

Der Journalist Peter B., der aus einer urkommunistischen Arbeiterfamilie kommt, SEW-Mitglied wird und als Rundfunkreporter für den Ostberliner Rundfunk am 18. Dezember 1964 über die rund 2000 Studenten berichtet, die mit einem Schweigemarsch vom »Platz der Luftbrücke« auf dem Mehringdamm gegen den Besuch des kongolesischen Diktators Tschombé in Berlin protestieren. Diese Demo zählt zu den Anfängen der antiautoritären Studenten- und Jugendbewegung in Berlin - und Peter B. macht dabei sein erstes Interview mit Rudi Dutschke, da schon ein wortgewaltiger, doch unbekannter Student, noch dazu DDR-Flüchtling. Zwei Jahre später, 1966, wird Dutschke zur Bildung der APO (Außerparlamentarischen Opposition) aufrufen. Sie bringt die starren Verhältnisse zum Tanzen und Peter B. zu der Überzeugung, »so wie es ist, bleibt es nicht. Davon war ich überzeugt. Und diese Illusion möchte ich nicht missen.«

Die junge Theologiestudentin Horsta K. verlässt 1963 nach dem Abitur das Rheinland. Ihr Vater ist Bundeswehroffizier, sie gewiss keine Rote, doch bis heute hat sie die »Herrenabende« der ehemaligen Wehrmachtsangehörigen auf dem Militärflugplatz Nörvenich als bedrückenden Spuk in Erinnerung. Wegen des Studiums geht sie nach Westberlin. Das antikommunistische Frontstadt-Klima erlebt sie als bedrohlich und spießig: »Der Hass hat mich erschreckt.« Ihre antikapitalistische Politisierung entsteht während des Schah-Besuchs mit dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, bei der Sitzblockade auf der großen Vietnamdemonstration am Gründonnerstag 1968 und in den Vorlesungen des Theologen Helmut Gollwitzer. Sie wird neugierig auf andere Gedanken und entdeckt die DDR für sich: Besucht Sachsenhausen, geht in die Theater, trifft Menschen, die ihre Freunde werden. Bestätigung und Ermutigung für sozialistische Ideale schließlich findet sie in der Bibel, Neues Testament, Matthäus 5: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. (...) Selig sind, die Frieden stiften.« Das wird zum Credo ihres Handelns. Wer ihr sagt, mit der Radikalität der Bergpredigt könne man nicht die Welt regieren, dem antwortet sie: Wehe der Welt, wenn nicht.

Peter und Horsta sind Zufallsbegegnungen, auch Beate, das Mädchen aus der Manteuffelstraße, das später Soziologie studieren wird. Sie lerne ich auf der Ausstellung von Siebrand Rehberg am Moritzplatz kennen. Drei Tage später treffen wir uns in ihrer damaligen Stammkneipe »Stiege« in der Oranienstraße.

Wolfgang Lefevre ist ein »geplanter« Gesprächspartner. 1961 kommt der Abiturient frisch vom Internat in Ostwestfalen nach Westberlin, um an der FU Philosophie zu studieren. 1965 unterzeichnen er und Peter Damerow als AStA-Vorsitzende der FU einen Aufruf »Frieden für Vietnam«. Lefevre ist auch am 5. Februar 1966 bei dem Studentenprotest gegen den Vietnamkrieg vorm Amerikahaus dabei. Es ist eine seiner ersten Demos.

»Ich denke, dass sich heute derjenige als Revolutionär begreifen muss, der durch intellektuelle Arbeit und sinnvolle Erfahrung zu der Erkenntnis kommt: Diese Gesellschaft kann und soll verändert werden. (...) Es gibt keine Notwendigkeit des Sieges der Revolution in der Geschichte. Es ist eine Chance, eine Möglichkeit« - sagte Rudi Dutschke 1968 und setzte hinzu: »Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte.«

Wolfgang Lefevre, AStA-Vorsitzender, 1967 Mitbegründer der Kritischen Universität, war mit Rudi Dutschke einer der Initiatoren des Widerstandes. Ihn treffe ich am Urbanhafen und frage ihn, was er von der Umkehrung des Satzes hält: Wir sind doch die hoffnungslosen Idioten der Geschichte. »Ich finde den Satz nicht besonders gut, muss ich sagen.«

Natürlich habe er das auch so gesehen, dass die Welt verändert werden muss und dass das auch möglich ist. »Heute bin ich nicht mehr ganz so optimistisch.« Es wird ein langes Gespräch über Wünsche, Wollen und die Wirklichkeiten. Hier ein kurzer Auszug:

Was hat Sie damals zum Handeln gebracht?

Das eine war, als mir, tatsächlich erst in meinem Abitur, plötzlich die Frage nachging, was haben eigentlich meine Eltern zwischen 1933 und 1945 gemacht? Und was haben wir auf der Schule über diese Zeit gelernt? Das war ja ganz klar: Es war eine reine Verdrängung und Beschönigung. Das wurde dann sehr verstärkt, als ich an der FU mit Studenten zusammenkam, die diese Frage systematisch aufgerollt haben, insbesondere der Kreis um die kleine Zeitschrift »Das Argument«. Der wichtigste Antrieb war, dass ich nicht sah, dass wir irgendwie sicher sein können, dass sich das nicht wiederholen kann.

Angst?

Ja. Für mich damals verband sich das: Vietnam und die NS-Frage. Ich sagte mir: Moment, Amerika ist eine parlamentarische Demokratie, wenn auch ein bisschen anders als bei uns - und es zeigte sich: Man muss eine solche Demokratie überhaupt nicht institutionell umbauen, wie die Nazis hier Deutschland umgebaut haben, um Völkermord zu begehen.

Es funktioniert auch so.

Ja, es funktioniert auch so. Und wir fragten uns: Wo haben wir eigentlich die Garantien, dass das nicht wiederkommt? Und dann kam noch die Notstandsgesetzgebung dazu, 1968 vom Bundestag verabschiedet.

1968 - das Kürzel der Zeit?

Ja, ich weiß nicht, warum. Denn richtig explodiert ist es schon 1967, nach dem Tod von Benno Ohnesorg. 1968 und die Jahre darauf war noch eine kleine Zeit für Utopie. Dachten wir.

Sie gehörten zu den ersten Opfern des Berufsverbotes. Wie kam das?

Ganz einfach: Ich habe 1971 promoviert. Das hat sich so lange hingezogen, weil das Abgeordnetenhaus von Berlin beraten hat, ob ich promovieren darf.

Wie das?

Ich war 1. Vorsitzender des AStA gewesen. Ich war dann einer der wahrnehmbaren SDSler gewesen. Ich galt als ein ganz schlimmer Mensch.

Warum?

Die ganze Studentenbewegung wurde doch hier verteufelt. Bei mir ging es darum, können wir so jemanden noch belohnen mit einem Doktor. Das ist eine akademische Frage.

Es wurde eine politische.

Es wurde politisch. Also deswegen hat sich das auch mit dem Promotionsverfahren hingezogen. Das war grotesk mit den Berufsverboten. Das ging doch bis hin zu Lokomotivführern, die in der DKP waren.

Die 70er Jahre. Es beginnt die bleierne Zeit. Nur noch Zorn. Kaum noch Ziele.

Beate, das Mädchen aus SO36, wächst in diesen Jahren in ihre Jugend hinein, verlässt die Nürtinger Grundschule in der Wrangelstraße gegenüber vom Mariannenplatz, geht aufs Gymnasium, macht 1974 Abitur. Warum Nürtingen-Schule? Wegen einer Wohltat: Einmal im Jahr spendierte die Stadt am Neckar den armen Kindern aus Kreuzberg eine Reise in die Schwäbische Alb. »Für fast alle Kinder war das die erste Ferienfahrt.«

Beate hat nicht vergessen, wo sie herkommt: Manteuffelstraße, vier Personen, zwei Zimmer, Klo auf halber Treppe. Billig und schlecht mit Blick auf die Naunynstraße, damals leergezogen für den Abriss. Später zogen türkische Familien her.

Beate lebt hier in vielen kleinen Welten. So entstehen Weltsichten.

Wie bei der Fahrt mit dem Großvater nach Plötzensee in die Gedenkstätte für die Opfer des NS-Regimes. Sie merkt sich den Spruch des alten Gewerkschafters gegen die Ausreden der Nachkriegszeit: Das konnte man wissen, was da passierte, sagt er. Sie wird ab da immer nachfragen. So wie bei dem Ausflug nach Dahlem. Eine Weltreise für das Kind. Dann eine Riesenvilla, ein großer Garten, aber ein Name nur. Schwer zu kapieren für das Mädchen aus SO36. Sie möchte die Wohnung tauschen und auch so schön wohnen, am besten mit all ihren Freunden. Der Großvater sagte: Eigentlich hast du recht.

Jahre später macht sie es: keine Villa, aber eine WG in der Dresdner Straße, mit dem Freund und ihren Freunden und mit Diskussionen nächtelang. Das Private ist politisch, anstrengend und macht Spaß. Kommune I ist nun Legende, aber als Lebensform immer wieder reizvoll. »Fritz Teufel hat uns stark geprägt, natürlich. Er hat die Welt infrage gestellt. Das war einfach spannend und mehr als Blödelei.«

Provozieren statt parieren. Gegen den terroristischen Irrsinn des kapitalistischen Alltags. Nachzulesen in einem schriftlichen Interview der damals inhaftierten Fritz Teufel, Ralf Reinders, Gerald Klöpper und Ronald Fritzsch, das sie im Sommer 1978 geben. Danach »ist die Bewegung 2. Juni eine subversive Kraft, die nach dem 2. Juni 1967 entstanden und gewachsen ist. Mit dem Schauplatz in Berlin. Berlin, als einer von vielen Schauplätzen autonomer Bewegungen zur Veränderung der Gesellschaft. Aus einer kapitalistischen Ausbeutungs- und Entfremdungshölle zu einer sozialistischen Gesellschaft freier Menschen. Ohne Herrschaft. Ohne Zwang. (...) Nicht Anziehpuppe, Schräubchen, Roboter, manipulierter Konsumidiot einer vom Profitinteresse gesteuerten gesellschaftlichen Als-ob-Natur zu sein.«

Das ist deutlich eine Kampfansage - und hat Folgen, auch für Kreuzberg. Die bürgerliche Justiz und Staatsgewalt zeigen, wozu sie in der Lage sind. »In den RAF-Zeiten wurden die natürlich hier gesucht. Jedes besetzte Haus galt als Terroristenhaus.« Engmaschige Kontrollen, lange Haare, das richtige Alter - schon gefilzt. Beate hat es erlebt: »Polizeiauto, zwei Jungbullen mit MP holten uns runter vom Rad, Kontrolle. Du bist wehrlos. Auch eine Art von Terror.«

Von der »Stiege« aus geht Beate mit mir ihre damaligen Wege - hinein in ihre Geschichte. Hinten am Lausitzer Platz war das mit der MP. Sie zeigt mir auch das erste türkische Restaurant an der Ecke Oranien-/Adalbertstraße. Und da ist die neue Gesellschaft für Bildende Kunst, auch 1968 gegründet. Hier das SO36, der Kultschuppen, damals mit den ersten Punkkonzerten. Da ist noch der erste Bioladen Kraut und Rüben, ein Frauenkollektiv. Und das ist der Heinrichplatz. Dann kann ich nicht mehr. Aber es geht weiter: »Und jetzt zeige ich Dir, wo wir uns als Jugendliche immer hingeflüchtet haben, wenn Demo war und die Jagd losging mit Tränengas und Tatütata.« Es ist die Pizzeria Samira am Görlitzer Bahnhof. Hier versteckten sie sich und bekamen feuchte Tücher für die brennenden Augen. 40 Jahre her oder so ähnlich. Letzte Info: Da drüben, wo jetzt die Moschee steht, da war das Bolle-Eck, an einem 1. Mai abgefackelt und geplündert. »Ja«, sagt Beate, »das war noch in den wilden Zeiten.« Die sind nun vorbei. Die Stadt ist wie ein wütender Fluss, der alles verschlingt.

Welche Wünsche von damals hast du heute noch, frage ich. »Im Prinzip alle - nur nicht mehr so kompromisslos.«

Diese Ruhe. Friedhofsruhe. Im Moment kein Mensch weit und breit. Auch gut, wenn man an Gräbern sitzt und Gedanken fängt. Zwei, drei Meter - und ich bin bei Fritz Teufel, paar Meterchen diagonal weiter bei Herbert Marcuse. Beide Aufrührer sind auf den Dorotheenstädtischen Friedhof gezogen. Dichter, Denker, auch Kämpfer liegen hier.

Das passt, sagt Helene, Teufels Partnerin. Aber mehr will sie nicht erzählen über den Mann, der es ernst meinte mit einer, mit seiner, mit der Revolution und auch deshalb seinen Spaß trieb mit der Welt und den Menschen. Ich treffe Helene, sie gießt das Gras und wir reden ein bisschen über damals - mein Wort darauf, dass ich nichts schreibe.

Nachdenken an den Gräbern. Erinnerungen, die nicht meine sind. Andere haben sie hier begraben. Begraben wie eine verlorene Liebe. Wie ein Schwert, mit dem die Zeit geteilt und geheilt werden sollte. Wie ein Traum, der immer mal wieder kommt.

Auf dem Grabstein von Fritz Teufel steht sein berühmter Spruch aus dieser Zeit. Daneben hat einer ne Spielzeugpistole gelegt.

Auf dem Grabstein von Herbert Marcuse steht: Weitermachen. Vielleicht ist das die Summe aus den Erinnerungen an 68: Weitermachen. Warum nicht, wenn’s der Wahrheitsfindung dient.

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