Trauer im Kriechgang

Staatsoper Berlin: Sasha Waltz choreografierte den »Orfeo« von Claudio Monteverdi

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Fehlten die Hirten und Nymphen in diesem Stück, es wäre nur die Hälfte wert. Ihre poetischen Kräfte geben der Komposition Nahrung und Rahmen. Musik gehört zum Edelsten dieser prachtvollen Menschenschar. Ihre Anmut ist eins mit der umliegenden Landschaft der Geigen, Violen, Harfen, Theorben, der Oboen und Zinken. Tongirlanden und seidene Kleider winden sich in den sonderbarsten Farben. Die Feier gilt dem Liebesglück des hohen Paares Orfeo und Euridice.

Selbst in der Schräglage wissen Tänzer ihre Canzonen zu singen. Was zeugt die harmonia mundi anderes als Vergnügung, Sitte und Glück? In die temposcharfen Ritornelli fallen die ausgelassensten Tänze. Erfreue sich der Lebende an den Büschen, den Weidenzweigen, dem Gehölz der Wälder, den Gerüchen der Nebel, den bunten Blüten. Besinge er die unter der Sonne durch eigene Hand vollbrachte Ernte auf den Feldern. Sei er sich der Schönheit des menschlichen Antlitzes gewärtig. Das hohe Paar wiegt sich im Glück und die andern mit ihm. Dies die helle Seite der Monteverdi-Oper, von Sasha Waltz im Berliner Schiller-Theater prächtig ins Bild gesetzt.

Plötzlich Schatten. Wie bei Dante der Satz: »Lasst alle Hoffnung, ihr, die eintretet!« Hochragende Drehplatten öffnen den Hintergrund. Schlimme Kunde breitet sich sophokleisch aus. Die Hirten und Nymphen klagen, die Schatten ihrer Körper weinen. Ein Schlangenbiss hätte Euridice getötet. Die Nachricht kippt alle Fröhlichkeit der Lobpreisung zuunterst. Dies die bekannte dunkle Seite. Sie führt ins Reich des Herrschers der Unterwelt, Plutone. Der, von seiner mitleidigen Gattin Proserpina erweicht, lässt den tief unglücklichen, gleichwohl willenskräftigen Orfeo unter der Bedingung sein Reich betreten - der berühmte Fährmann auf dem Floß sorgt dafür -, er dürfe sich nach Euridice nicht umsehen, andernfalls stürbe sie.

»Orfeo«, fünfaktig mit Vorspiel, große Oper schon darum, weil sie als die erste große in der alteuropäischen Musikgeschichte gilt, erblüht unter Sasha Waltz buchstäblich. Ihre Art, Musik und Szene zu choreografieren, hat etwas ungemein Betörendes. Alle Bemühung steht im Zeichen der Gebärden, der Mimik, der Sprache des Tanzes, etwas, das durchgängig mit dem Singen engstens korreliert und unendliche Abschattierungen mitführt. Gleichermaßen davon berührt ist das Verhältnis zu den Ensembles und Chören. Monteverdis Ritornelli, eine Fülle davon ist eingestreut, geben einmal die nötigen Freiräume hierfür. Zum anderen die durchweg alte Instrumente bedienenden Musiker. Sie sind in alter venezianischer Manier doppelchörig postiert. Links siedeln vorwiegend die Streicher, rechts die Bläser, Harfe, Trommel, Theorben und andere Zupfinstrumente.

Inmitten die große Tanzfläche, eine Platte, möglich, sie zu heben und zu senken, schräg zu stellen, wovon sinnvoll Gebrauch gemacht wird (Bühne Alexander Schwarz). Die Chöre - ihren Mündern entspringt so freudige wie dramatische Kunde - sind in der Regel vorn platziert. Sie kommen und verschwinden rasch wieder. An einer Stelle bückt sich die Riege, um einer Solostimme, die stehen bleibt, Gewicht zu verleihen. Choreografische Raffinements gibt es unzählige.

Besagte schlimme Nachricht, Euridice sei tot, hat Folgen für sämtliche Dimensionen der Individuen und der Bühne. Solistische Sängertänzer teilen ihre Trauer im Kriechgang mit, ihre Körper seufzen nach den Sequenzen der Seufzermotivik, die den zweiten Akt beherrschen. Tänze laufen sowohl synchron wie asynchron oder beide Möglichkeiten laufen in einem komplexen Arrangement ab. Es gibt diverse Schatten- oder spiegelhafte Modelle, sie dienen der Intensivierung des Ausdrucks.

Unerhört eindrucksvoll die Fährmannszenen mit ihrer Vielfalt umherirrender nächtlicher Gestalten. Hinter dem vorn agierenden hohen Paar gesellt sich häufig ein weiteres oder größere Gruppen geben den Hintergrund. Leitmotivisch bringt sich eine junge grellblau gewandte Tänzerin ein, umgarnt und um die Leiber gewunden von artistisch inspirierten Tänzern.

Zauberhafte Bilder hat die auch mit Neuer Musik arbeitende Sasha Waltz (Projekte mit Dusapin und Hosokawa) entwickelt. Wie immer standen ihr erste Tänzerinnen und Tänzer zur Verfügung, die gleichzeitig singen können. Bariton Georg Nigl als Orfeo und die Sopranistin Anna Lucia Richter als Euridice - ungleichgewichtig ihre Rollen, da Euridice ja ziemlich rasch abtaucht - gaben die ganze Anmut des Paares und dessen Glückseligkeit wie Tragik wieder. Wie dieselben überragend das Freiburger Barockorchester unter dem absolut umsichtigen, engagierten Torsten Johann. Zu nennen bliebe die junge Beate Borrmann, die prachtvolle Gewänder entwarf.

Ein Makel vielleicht: Bisweilen wirkte die Szenerie allzu blumig. Die Freuden der Hirten und Nymphen mit roten Äpfeln im Mund und verschiedenem Gemüse wie Gurken, Mohrrüben, Blumenkohl in der Hand auszudrücken, schien ein bisschen zu viel des Guten. Groß am Ende die Freude der Leute.

Nächste Vorstellungen: 5., 6.7.

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