Das Ende der Melancholie
Margarita Tsomou hat sich am Samstag von Athen aus auf den Weg gemacht, um auf ihrer Heimatinsel abzustimmen: mit Oxi
Seit Freitag Abend, seit der OXI-Versammlung am Syntagma-Platz, geht es mir viel besser.
Während der letzten Woche waren alle Diskussionen von gemischten Gefühlen beherrscht: Zweifel ob der Richtigkeit des Referendums, Angst vor einem JA, das europaweit Austeritätspolitik besiegeln wird, aber auch Angst davor, was das Nein bedeuten könnte, Unsicherheit ob die Banken am Dienstag aufmachen…
»Die Lage ist sehr schwierig«, das war der Satz, den wir am meisten austauschten. Doch die OXI-Versammlung wirkte wie ein Gegenmittel zur politischen Melancholie: Bereits jetzt gilt sie als eine der wichtigsten Versammlungen der letzten Jahrzehnte.
Und ich hatte tatsächlich auch den Eindruck einem weiteren historischen Ereignis seit der Krise in Griechenland beizuwohnen, das die Erfahrung und die Transformation der Gesellschaft - die Verelendung, die Proteste, die Platzbesetzungen der Empörten, die mehrfachen Wahlgänge, die Syriza-Hegemonie und die Verhandlungen - als kollektive Erinnerung in sich kulminierte und auf eine neue qualitative Ebene hob.
»Diese Atmosphäre habe ich seit den Platzbesetzungen in 2011 nicht mehr erlebt«, so Costas Douzinas, der wie ich, aus dem dringlichen Gefühl dabei sein zu müssen, mal wieder ins Land geflogen war. Wir waren uns einig: heute waren es viel mehr Menschen als damals, bei 130.000 auf dem Platz war es unmöglich sich durch die Menge zu bewegen. Die Zusammensetzung der Menschen war sehr divers, mehrheitlich aus populären Schichten, Kleinbürgern, sichtbar Armen, die ihre besten Klamotten angezogen hatten, Junge und Rentner, Linke aber auch Rechte, Bildungsbürger, working-poor, Patrioten und Anti-autoritäre, viele ganz simple, menschliche und auch geplagte Gesichter jenseits der bekannten politischen Identitäten, die anonyme Menge des Populus, allein vereinigt durch die Kraft, den Mut zu haben, Austerität abzuwählen und dafür wenn nötig einen Preis zahlen zu müssen.
Aber auch der Festival-Charakter des Abends erinnerte an 2011 - auf der Bühne spielte die wichtigste Riege griechischer Musiker und Musikerinnen (z.B. Sotiris Malamas, Alkinos Ioannidis, Eleni Vitali) für das Nein. Hunderttausende sangen mit ihnen Mikis Theodorakis-Liedgut aus der Diktatur, Partisanenlieder von 1940-45 und vertonte Gedichte von Giannis Ritsos und Nikos Kasatzakis. Der Demos groovte sich ein im Takt der kulturellen Erbes der progressiven Befreiungsbewegungen seiner Geschichte und rief das OXI, OXI, OXI aus vollem Herzen bis tief in die Nacht den Gläubigern zu.
Es ist schwer, die Qualität solcher populären Versammlungen zu beschreiben, wenn man so etwas noch nicht erlebt hat - es ist insbesondere für Deutsche schwer vorstellbar, dass es eine progressive populäre Menge geben kann, die sich jenseits faschistoider Kulturen oder jenseits der linken Rituale bewegt. Es tut mir Leid für diejenigen unter den Leser_innen, die sich die folgenden Beschreibungen nur als Romantisierung vorstellen können.
»Die Freiheit verlangt Wagemut und Aufrichtigkeit«, auf der Bühne zitierte Tsipras ein Lied gegen die griechische Junta von Mikis Theodorakis, für das er Kalvos, den Dichter der griechischen Befreiungsbewegung gegen die Türken in 1821 vertont hat. Die Griech_innen auf dem Platz wissen, dass das Gedicht geschrieben wurde, um zu sagen, dass die Freiheit Opfer verlangt …und sie wissen auch, dass, das NEIN der erste Schritt zu so einem Opfer ist.
Tsipras war zwar zentraler Redner aber sprach nicht mal 10 Minuten und erwähnte weder Syriza noch die Regierung, sondern sprach immer von einem »ihr«, der Bevölkerung. Denn auch wenn alle Anwesenden mit dem OXI auch Syriza stützen werden, war dies weit mehr als eine Syriza-Parteiversammlung. Anders als bei den vorangegangenen Wahlveranstaltungen der letzen Jahre, an denen Tsipras sprach, hatte die Menge das Event angeeignet - denn schließlich sind es sie, die am Sonntag sprechen.
Sie waren gekommen, um sich zu feiern und sich gegenseitig zu stärken, da jede_r Einzelne von Ihnen heute eine große Verantwortung auf sich nehmen muss, nun als Eingeladene am Verhandlungstisch über die Vereinbarung mit den Gläubigern mit zu entscheiden. Und stärken müssen sie sich, weil ihr Nein, ein riskantes und mutiges Nein ist, das einen ungewissen Ausgang hat, aber dafür steht, eine Zukunft mit vielen möglichen Ausgängen zu ebnen.
Das Referendum hat die Bevölkerung als zentralen Akteur zurück auf die Agenda gebracht und hat zur Formierung einer neuen politischen Menge geführt: dem Lager des Nein, d.h. dem neuen gesellschaftlichen Block gegen den europäischen Neoliberalismus. Dieser gesellschaftliche Block repräsentiert viel mehr als Syriza oder die Linke, sondern steht für eine verallgemeinerte Haltung der Bevölkerung, für die entstandene Hegemonie der Anti-Austerität im Land.
Egal, wie am Montag das Ergebnis ausfallen wird - dieses Lager ist sich am Freitagabend selbst bewusst geworden. Es wird die Menge sein, die - mit oder ohne Syriza-Regierung - das Rückrad jedes progressiven Projekts in den nächsten Jahren im Land sein wird. Und egal wer vorne stehen wird - es ist nun nach vielen Jahren des Leidens endlich für alle in Europa der Widerspruch zwischen Gläubigern und den europäischen Bevölkerungen sichtbar aufgeplatzt.
Doch man kommt sich hier nicht vor, wie ein Held. Später am Abend kommt die populäre Sängerin Eleni Vitali auf die Bühne: »Wir sind keine Helden, wir sind nur kleine Hunde, die mit ihrem Schwanz wedeln, damit uns endlich jemand zuhört. Und deswegen mögen wir Tsipras, weil wir ihm ansehen können, dass er auch nur ein kleiner Hund ist, der, wenn er glücklich ist mit dem Schwanz wedelt und wenn er unzufrieden ist losbellt. Weil wir ihm ansehen können, wie es ihm geht. Er ist einer von uns.«
So macht man sich, an jenem großen Moment des griechischen Souveräns, keine Illusionen über die Siegeschancen. Man macht sich nur Mut. Lachen und Weinen, Rührung, Angst, Spannung und Hoffnung durchdringen uns alle in dieser Woche - nur kleine Hunde, die mit dem Schwanz wedeln, um im neuen kalten Krieg gegen die Griechen das Referendum über den Gläubigerdeal zu einer historischen Schlacht für Selbstbestimmung gegen das neoliberale Europa zu machen. So gebe ich Tsipras am Ende seiner Rede Recht: »Egal was passiert, die Griechen haben bereits Geschichte geschrieben.«
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