Offensichtliche Katastrophe
Zu wenig Ärzte, zu wenig Medikamente, zu wenig Versicherte: Griechenland leidet
Was die Delegation deutscher Ärzte, die sich unlängst in Griechenland selbst ein Bild von der Lage im Gesundheitssektor machte, nach ihrer Rückkehr zu erzählen hatte, bedrückte nicht nur die Mediziner selbst.
In der psychiatrischen Abteilung des General Hospital of Athens zum Beispiel mussten »Patienten mit unterschiedlichsten psychiatrischen Diagnosen auf dem Flur nächtigen«, während ein »Stockwerk direkt über der überfüllten Station leer steht«. Die Möblierung könne nicht bezahlt und das zur Versorgung der Patienten notwendige Personal nicht eingestellt werden, hatte die Chefärztin der Abteilung der Delegation des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) und des IPPNW erzählt.
Die Ärzte zeigten sich nach der Rückkehr »schockiert über das Ausmaß der humanitären Krise in Griechenland: Sparpolitik und die darauf folgende grassierende Arbeitslosigkeit haben jeden dritten Griechen aus der Krankenversicherung ausgeschlossen«. Auch herrsche »ein eklatanter Personalmangel, da aufgrund der Austeritätspolitik kein Fachpersonal eingestellt werden kann«.
Seit 2010 wurden im Zuge diverser Kürzungsprogramme Ausgaben im Gesundheitssektor um Milliarden zusammengestrichen, die Eigenbeteiligungen bei Medikamenten erhöht, die Medikamentenbudgets bei staatlichen Kliniken reduziert, Krankenhäuser mussten schließen, Ärzten wurden immer weniger Überstunden bezahlt.
»Dass die Troika die schwere Krise des Gesundheits- und Sozialsystems völlig ausblendet«, könne man als Mediziner »nur als menschenverachtend bewerten«, empört sich die Ärztedelegation aus Deutschland. Inzwischen rücken die Probleme im Gesundheitssektor, die nicht erst seit dem krisenpolitischen Schlagabtausch der vergangenen Wochen bekannt sind, aber immer mehr auch in das öffentliche Bewusstsein. »30 Prozent der Bevölkerung sind ohne Krankenversicherung, die Säuglingssterblichkeit ist seit 2008 dramatisch gestiegen«, kritisierte der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Tom Koenigs, dieser Tage. Von den Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD werde jedoch »diese offensichtliche Katastrophe bisher lautstark beschwiegen«, kritisierte Koenigs.
Von einer »stillen humanitären Krise« spricht zwar auch SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach. Schweigend will der Mediziner und Bundestagsabgeordnete die katastrophale Lage im Gesundheitssektor aber nicht mit ansehen. In einem Interview forderte er in dieser Woche eine dringliche Hilfsaktion von Pharmafirmen und Krankenkassen für die Menschen in Griechenland. »Es ist sehr wichtig, dass man zunächst die Arzneimittelversorgung sicherstellt. Wir haben Hinweise darauf, dass die Medikamente selbst für Schwerstkranke in den Krankenhäusern knapp werden«, sagte er der »Berliner Zeitung«.
Betroffen sind Menschen mit schweren Herz-Kreislauf-Leiden und vor allem Krebskranke. »Wenn die Chemotherapie bei einem Leukämie-Patienten unterbrochen werden muss, ist das verheerend«, so Lauterbach in dem Blatt. Wie gravierend die Lage ist, weiß der SPD-Politiker auch deshalb einzuschätzen, weil er im Ausland als Berater für den Aufbau moderner Gesundheitsversorgungen gefragt ist. Er habe den Eindruck gewonnen, sagt der Sozialdemokrat nun, dass das griechische System »insgesamt zunehmend nur noch die Basisversorgung abdecken kann«. Er wolle nun versuchen, mit den Arzneimittelfirmen und dem Spitzenverband der Krankenkassen »eine konzertierte Aktion auf den Weg zu bringen. Dazu könnte auch gehören, dass preiswerte Arzneimittel zu den Einkaufspreisen, die in Deutschland gelten, auf den griechischen Markt kommen«.
Denn Griechenland muss die meisten Arzneimittel importieren. Es gab schon vor Jahren Berichte darüber, dass deutsche Hersteller wegen der Krise und der damit einhergehenden Zahlungsschwierigkeiten Lieferungen eingeschränkt haben. Zudem werden in Griechenland mehr teure Originalpräparate verwendet, der Anteil der günstigeren Generika ist geringer. Die konservative Zeitung »Kathimerini« hat in dieser Woche den Präsidenten des Apothekerverbandes, Kostas Lourantos, allerdings mit den Worten zitiert, es gebe bisher keine nennenswerten Engpässe in der Versorgung.
Die Frage ist, ob die Medikamente auch bei den Patienten ankommen. »Die nötigen medizinischen Produkte sind im Land, aber wenn sie sich nur in den Lagern der Firmen befinden und nicht in den Krankenhäusern, dann werden die Leute doch protestieren«, zitiert die »Süddeutsche Zeitung« den Athener Kardiologen Ilias Sioras.
Die Ärzte-Organisationen vdää und IPPNW warnen ebenfalls. »Für die mehr als drei Millionen Menschen in Griechenland ohne Krankenversicherung sind lebensnotwendige Medikamente wie zum Beispiel Insulin oder Krebsmittel nicht mehr erschwinglich.« Die sich ausweitende Notlage habe »steigende Säuglingssterblichkeit, steigende Zahlen von HIV, Tuberkulose, erste Malariafälle« und einen drastischen Anstieg von schweren Depressionen zur Folge.
Dass jetzt bereits über humanitäre Hilfe für ein EU-Mitgliedsstaat diskutiert werden müsse, nennt der Grünen-Politiker Koenigs »ein Armutszeugnis« für die Griechenland-Politik der Bundesregierung. Dafür, dass es überhaupt so weit gekommen sei, machte er die Politik der Gläubiger-Institutionen sowie die Bundesregierung verantwortlich. »Seit Jahren verschlechtert sich die Menschenrechtslage in Griechenland«, sagt Koenigs und fordert: »Menschenrechte müssen auch in Krisenzeiten und bei Sparprogrammen bindend eingehalten werden.«
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