Schwarzer Juli in Shanghai
Nach dem Einbruch der Aktienkurse bleiben Sorgen um die Stabilität der chinesischen Wirtschaft
»Die Krise wird China verändern«, lautet der Tenor in international bekannten Wirtschaftsblättern. Den Grund für solche beinahe revolutionären Ideen liefern die Börsen in den Wirtschaftsmetropolen Shanghai und Shenzhen: Chinas Aktienkurse haben innerhalb weniger Wochen 35 Prozent verloren. Umgerechnet rund drei Billionen Dollar virtuellen Geldes sollen sich in Luft aufgelöst haben. Skeptiker befürchten nun ein Debakel, das der Finanzkrise 2007/2008 oder dem Schwarzen Freitag an der Wall Street von 1929 nahe kommen könnte.
Wie konnte es soweit kommen? Der seit zwei Jahrzehnten andauernde wirtschaftliche Boom in China trieb auch die Aktienkurse in die Höhe. Erst in Hongkong - Pekings Experimentierfeld für wirtschaftliche Strategien -, dann an den nach und nach liberalisierten Börsen in Shanghai und Shenzhen. Die immer vermögender werdenden reichen Chinesen, aber auch internationale Investoren und Auslandschinesen, die von den Niedrigzinsen der Zentralbanken und dem Griechenland-Drama profitierten, investierten in Anteilsscheine etwa von Baidu, dem chinesischen Google, der Bank of China oder dem größten Chemie- und Elektrokonzern des Landes, Sinopec. Rund 90 Millionen Chinesen spekulieren am Aktienmarkt. Angesichts einer Gesamtbevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen zwar eine kleine Minderheit, aber auch diese will die Regierung mit im Boot wissen. Schließlich sorgen sich die Strategen in Peking um die Anlagemilliarden der Wirtschaftseliten.
Allein seit 2014 waren die Kurse bis zum Allzeithoch am 12. Juni um etwa 150 Prozent gestiegen. Vollkommen überraschend kam der Einbruch für Beobachter daher nicht. Börsen und Aktienkurse gelten schließlich als »Barometer« wirtschaftlicher Entwicklungen. Auch wenn sie manchmal wie in diesem Fall erst im Nachhinein anschlagen. Aber im zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegenen Roten Reich mehren sich Krisenzeichen eigentlich schon seit den Olympischen Spielen in Peking 2008: Landflucht und schrumpfende Gewinne von Unternehmen, börsennotierte Staatskonzerne, die gewaltige Schulden vor sich herschieben, sowie eine Kreditschwemme für marode Provinzunternehmen und Kommunen. Auch bei ausländischen Firmen, die die Modernisierung des heutigen Exportweltmeisters vorantrieben, hat die zeitweilige Euphorie nachgelassen - sie klagen über unsichere rechtliche Rahmenbedingungen, Industriespionage und Korruption in der öffentlichen Verwaltung. Zuletzt schwächelte auch noch die Binnennachfrage. Einzelhandel, Schienenfahrzeuge, Autos - überall sind die Verkaufszahlen rückläufig.
Doch was bedeuten diese Probleme für die Weltwirtschaft? Der Kurscrash hat andere asiatische Börsen in den Strudel gerissen. Ein Dominoeffekt droht. Auch der Deutsche Aktienindex verlor zeitweilig, vor allem Kurse von Autobauern und Zulieferern litten. China ist für Multis wie Volkswagen seit einigen Jahren der größte Markt. Dabei wird China zunehmend von einem Billigwarenexporteur zu einem Land, das für den eigenen Binnenmarkt Waren aus dem Ausland bestellt. »Das ändert die Gefährdungslage des Westens deutlich«, sagt der Chemnitzer Finanzmarktexperte Friedrich Thießen gegenüber »nd«. »Börsencrashs sind in diesem Zusammenhang eine klare Gefahr, weil sie die chinesische Binnenkonjunktur empfindlich treffen können.«
Auch die Führung in Peking ist besorgt und reagierte mit verschiedenen Maßnahmen, um die Börsenkorrektur nicht dem Markt mit seinem Herdentrieb zu überlassen. So wurde ein Verbot für Großaktionäre verhängt, weiter Aktien zu verkaufen. Und chinesische Staatskonzerne kauften eigene Anteile auf, um die Kurse zu stabilisieren. Am Donnerstag wurde der Abwärtssog dadurch zunächst gestoppt - es gab ein Börsenplus von fast sechs Prozent.
Entgegen den aufgeregten internationalen Reaktionen gibt es aber auch besonnene Stimmen. Manche Analysten sind erleichtert, dass »systemische Risiken« einer Aktienblase markant verringert wurden. Die übertriebenen Bewertungen chinesischer Aktien seien in »kürzester Zeit neutralisiert« worden. Angesichts der hohen Sparquote von etwa 40 Prozent der Arbeitseinkommen dürften die meisten chinesischen Kleinanleger die Verluste locker wegstecken.
Die Stützungsaktionen der chinesischen Führung sehen Analysten der Deutschen Bank denn auch nicht als panische Reaktion, sondern »lediglich als vorgezogene Schritte im langfristigen Liberalisierungsprozess der Kapitalmärkte«. So soll der grenzüberschreitende Aktienhandel erleichtert werden. Auch die immer noch enge Bindung des Renminbi an den Dollar soll gelockert und die chinesische Währung als globale Reservewährung etabliert werden. Was allerdings die Wirtschaft der Nachbarländer in Bedrängnis bringen könnte.
Kritik an der chinesischen Führung äußert dagegen der Bremer Ökonom Rudolf Hickel: »Zum einen zeigt sich, dass auch China längst vom Spekulationskapitalismus krisenhaft getrieben wird«, erklärt er gegenüber »nd«. Am Ende werde das auch die Realwirtschaft belasten. »Zum anderen demonstriert die chinesische Regierung einen unglaublichen Opportunismus.« Nach der Freisetzung der Märkte, so Hickel, folge in Krisenphasen die Rückkehr zum »autoritär interventionistischen Staat«.
Weitere Kursrückschläge schließen Analysten nicht aus. Die strengen Auflagen am Aktienmarkt führten zu Ausweichbewegungen etwa hin zu den Warenterminbörsen - steigende Nahrungsmittelpreise könnten die Folge sein. Und auf Dauer müsse der Aktienmarkt auch ohne staatliche Rettungsaktionen auskommen.
Zumindest kurzfristig bleiben die Abwärtsrisiken erhalten. Am Wochenende könnten weitere Rettungsaktionen durch die chinesische Zentralbank folgen.
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