Besatzer und Besetzte

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Teil Zwei der Venedig-Serie unseres Autors Gunnar Decker führt u.a. in das ehemalige Frauengefängnis der Lagunen-Stadt und beschreibt das spezielle Verhältnis vor allem der venezianischen Rentner zu den Fremden.

Am Tag lärmen die Zikaden aus dem parkähnlichen Garten von Friedensreich Hundertwasser herüber, zu ihm gehört ein rotverputzt bröckelndes Haus an meinem kleinen Kanal. Die hervorstechende Eigenschaft dieses Gebäudes sind mehrere überdimensionierte Schornsteine, die wirken, als sollte das Haus nur im Winter genutzt werden. Bei der Casa Hundertwasser, die man über eine eigene - jedoch immer verschlossene - Eisenbrücke erreicht, sehe ich niemals jemanden. Hundertwasser ist ja auch längst tot, wer also wohnt hier, sein Geist? Immerhin, die Blumentöpfe auf dem Balkon scheinen regelmäßig gegossen zu werden. Gleich an die Gartenmauer und die fünf großen Schornsteine schließt sich die Mauer des Frauengefängnisses von Giudecca an, der Wachturm lehnt sich fast an die Villa.

Aber seit drei Jahren ist das Gefängnis geschlossen, das Areal verlassen. Es herrscht eine wundervolle Ruhe hinter jener Mauer, über die ich von meinem Balkon blicken kann. Ein verlassener Zellenblock und mehrere backsteinerne Werkstätten werden nun langsam aber stetig von den ungestört wildwuchernden Oleanderbüschen verdeckt. Nachts übernehmen hier dann die Grillen von den Zikaden das Zirpmonopol, aber sehr viel dezenter; das unheimliche Schreddergeräusch der vielen Zikaden hat doch etwas Lärmendes.

Über den schmalen Kanal, zwischen Redentore-Kirche im Rücken und Frauengefängnis vis a vis habe ich einen Durchblick über den Giudecca-Kanal hinüber zum Campanile und der Markuskirche, von deren fünf Kuppeln ich jedoch nur drei sehe. Jedenfalls: ein privilegierter Platz, und jedes Jahr zittere ich auf Neue, ob mich hier etwa eine Baustelle erwartet, man in der lukrativen Brache bereits ein weiteres Luxushotel hochzieht, Markusplatzblick inklusive.

Aber die Stimmung der Venezianer solchen Neubauvorhaben gegenüber ist schlecht. Die Stimmung hier ist immer schlecht, das gehört dazu bei den letzten Ureinwohnern Venedigs, die gern und viel klagen - über die zwanzig Millionen Touristen im Jahr, über die riesigen Luxusliner, die sich gleich Hochhäusern nur ein paar hundert Meter von meinem Freisitz entfernt mehrmals täglich durch Venedig hindurch schieben wie durch ein Nadelöhr, über den Müll, dessen wachsender Menge man kaum mehr Herr wird, das immer wiederkehrende Hochwasser - eben: den Untergang im Allgemeinen und Speziellen. Aber sie leben davon! Die Vaporetto-Einzelfahrt kostet bereits 7,50 Euro!, meine Monatskarte statt der 28 Euro noch vor fünf Jahren bereits 37 Euro, das ist im Verhältnis immer noch billig, aber die Tendenz wird deutlich. Die Stadt erhebt zudem seit vorletztem Jahr eine City-Tax auf Übernachtungen und jeder, der hier auf seinem riesigen schwimmenden Ferienhotel durch Venedig gelotst wird (was unabsehbare Folgen für die Strömungsverhältnisse hat), wird mit einer Gebühr zur Kasse gebeten. Vor Jahren stritt man in der Serenissima (der »erlauchten« Stadtverwaltung) noch lauthals darüber, ob man nun Getränkeautomaten an ausgewählten Vaporetto-Stationen zulassen solle oder nicht, inzwischen stehen sie überall. Die Zahl der Bankfilialen in Glas und Beton an allen Ecken der Stadt nimmt rapide zu. Doch gerade das ist eben ein Spiegel Venedigs: Es geht hier immer ums Geld.

Wenn man dazu äußert, dies sei eben ein typisches Neureichenphänomen, das hier in besonders gut konservierter Form zu besichtigen ist, dann verstehen das viele nicht. Aber Venedig hat schon in seiner besten Zeit mit List oder Gewalt versucht, fremden Reichtum hierherzuholen. Die Markuskirche, eine freie Improvisation auf die Hagia Sophia in Konstantinopel, zeugt davon. Denn Anfang des 13. Jahrhunderts schickte Papst Innocenz III. ein Kreuzfahrerheer nach dem anderen los, um Jerusalem von den sogenannten Ungläubigen zu befreien. Die Unternehmungen waren nie sonderlich erfolgreich, aber der vierte Kreuzzug 1204 hatte Erfolg, jedoch auf andere Weise, als der Papst es wollte.

Das lag an Venedig. Die venezianische Flotte sollte das Kreuzfahrerheer nach Ägypten bringen, dafür wurde sie bezahlt. Aber der Doge Enrico Dandalo, dem die Führung übertragen worden war, hatte andere, ganz eigene Pläne: Er leitete den Kreuzzug kurzerhand nach Konstantinopel um, ließ die dortigen griechischen Christen (wahrlich ein Kreuzzug!) abschlachten und setzte dann natürlich einen Venezianer als Patriarchen ein. Dieser organisierte auch den Transport aller beweglichen Reichtümer nach Venedig. Wer sich fragt, was die vielen Löwenportale und Säulen in Venedig machen, wie die vier Bronzepferde und viele andere Dinge, mit denen sich die Markuskirche schmückt, hierher kamen, der schaue in die Geschichtsbücher.

Aber, wo wir bei der Historie sind: Mit Napoleon kam zum Beginn des 19. Jahrhunderts bittere Armut nach Venedig. Die Stadt hatte - vor Erfindung des Tourismus und der Ausbeutung der romantischen Legende vom Versinken der Stadt - keine Einnahmequelle mehr und war doch voller Menschen, von denen die ärmeren in blankes Elend gerieten. Auf Fotos von Beginn des 20. Jahrhunderts sieht man noch die zilleartigen Milieus mit zerlumpten schmutzigen Menschen.

Rettung kam erst mit Garibaldi und dem italienischen Nationalismus, der sich gegen die österreichische Besatzungsmacht auflehnte? Hippolyte Taine bestreitet das. Die Besatzer, schreibt er, ernährten notgedrungen die Stadt, Arme wie Reiche, aber als 1866 die alten venezianischen Adelsfamilien wieder das Sagen bekamen, kümmerten sie sich kein bisschen ums Volk. Taine schreibt auch, Besatzer und Besetzte hätten im Alltag eine seltsam verdeckte Form gegenseitiger Nichtachtung kultiviert, die bis an die Grenze des Erlaubten ging. Wenn die österreichischen Offiziere ins »Fenice« zur Oper gingen, dann mussten sie sich darauf einstellen, dass man sie - wie zufällig, aber in Wahrheit eben doch sehr gezielt - mit Ellenbogen und Füßen stieß und trat. Die italienischen Patrioten wussten genau: Die Österreicher hatten strikten Befehl, sich nicht provozieren zu lassen.

Genauso komme ich mir manchmal vor, wenn ich abends mit der überfüllten Linie 1 zum Lido fahre und beim Einsteigen von venezianischen Rentnern genüsslich gestoßen, getreten und beiseite geschoben werde. Am besten, man entschuldigt sich dann sofort selber mit einem feige-anspielungsreichen »mi scusi!« und denkt daran, dass die Venezianer eben eine lange und sehr spezielle Geschichte im Umgang mit Fremden haben.

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