»Sie haben uns in die Falle gelockt«
Jetzt auch auf Deutsch: Yanis Varoufakis im Gespräch mit »New Statesman« über fünf Monate als griechischer Finanzminister, den Druck der Gläubiger und Wolfgang Schäuble als Orchesterleiter
Harry Lamberts: Und, wie fühlen Sie sich?
Yanis Varoufakis: Ich fühle mich überragend – Ich muss nicht länger nach diesem hektischen Terminplan leben, der war absolut unmenschlich, einfach unglaublich. Ich hatte fünf Monate lang zwei Stunden Schlaf pro Nacht. Ich bin außerdem erleichtert, dass ich nicht mehr diesen unfassbaren Druck aushalten muss, von einer Position aus zu verhandeln, die ich schwierig zu verteidigen finde, selbst wenn es mir gelänge, die andere Seite zum Nachgeben zu bringen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.
Wie war es denn? Hat Ihnen irgendetwas daran gefallen?
Na klar, eine Menge. Aber die Informationen, die man aus dem inneren Kreis erhält... deine schlimmsten Befürchtungen werden bestätigt... Die Mächtigen sprechen direkt mit dir, und dann ist es so wie man befürchtet – sogar schlimmer als man es sich vorgestellt hat! Also, es hat Spaß gemacht, einen Sitz in der ersten Reihe zu haben.
Worauf spielen Sie an?
Das vollständige Fehlen demokratischer Skrupel unter den angeblichen Verteidigern der europäischen Demokratie. Das ziemlich deutliche Verständnis auf der anderen Seite, dass wir analytisch übereinstimmen – aber das selbstverständlich niemals etwas herauskommen wird. [Und dann] schauen dir sehr mächtige Personen in die Augen und sagen: »Sie haben recht mit dem, was Sie sagen, aber wir werden Sie trotzdem zerquetschen.«
Sie haben gesagt, Gläubiger waren gegen Sie »weil ich in der Eurogruppe versuche, ökonomisch zu argumentieren, was dort niemand sonst tut.« Was ist passiert als sie das taten?
Es ist nicht so, dass es nicht gut aufgenommen worden wäre – es ist eher so, dass es eine vollständige Verweigerung gab, sich auf ökonomische Argumentationen einzulassen. Unverblümt. Sie stellen ein Argument vor, an dem Sie wirklich analytisch gearbeitet haben – um sicher zu gehen, dass es logisch kohärent ist – und dann schauen Sie lediglich in leere Gesichter. Sie hätten genau so gut die schwedische Nationalhymne singen können – Sie hätten dieselbe Antwort bekommen. Und für jemanden, der akademische Debatten gewöhnt ist, ist das ist erschreckend. Da debattiert die andere Seite immer mit. Aber hier gab es gar keine Beteiligung. Man hat nicht einmal Genervtheit gespürt, es war so, als ob man einfach nichts gesagt hätte.
Als Sie zum ersten Mal in der Eurogruppe dabei waren, Anfang Februar, da kann das doch keine einheitliche Position gewesen sein?
Naja, da gab es Leute, die auf einer persönlichen Ebene aufgeschlossen waren – also hinter verschlossen Türen, auf einer informellen Basis, insbesondere vom Internationalen Währungsfonds IWF.
Auf höchster Ebene?
Auf höchster Ebene, auf höchster Ebene. Aber dann, in der Eurogruppe, ein paar nette Worte und das war’s, zurück hinter die Barrikaden der offiziellen Version. Aber Wolfgang Schäuble war die ganze Zeit konsistent. Seine Sicht lautete: »Ich diskutiere das Programm nicht – es wurde von der Vorgängerregierung akzeptiert und wir können unmöglich erlauben, dass eine Wahl etwas verändert. Schließlich haben wir andauernd Wahlen, es gibt 19 von uns, wenn sich jedes Mal nach einer Wahl etwas verändern würde, würden die Verträge zwischen uns bedeutungslos werden.« An diesem Punkt musste ich dazwischengehen und sagen: »Okay, dann sollten wir vielleicht einfach keine Wahlen in verschuldeten Ländern mehr abhalten.« Und es gab keine Antwort. Die einzige Interpretation, die ich dafür liefern kann, ist: »Ja, das wäre eine gute Idee, aber es wäre schwierig sie umzusetzen. Unterschreiben Sie also entweder auf der gepunkteten Linie oder Sie sind raus.«
Und Angela Merkel?
Sie müssen verstehen, dass ich nie etwas mit Merkel zu tun hatte, Finanzminister sprechen mit Finanzministern, Premierminister sprechen mit Kanzlerinnen. Meinem Verständnis nach war sie wirklich anders. Sie versuchte, den Premierminister (Alexis Tsipras) zu beruhigen – Sie sagte: »Wir finden eine Lösung, machen Sie sich keine Sorgen, ich werde nicht zulassen, dass etwas Schlimmes passiert. Machen Sie einfach Ihre Hausaufgaben und arbeiten Sie mit den Institutionen, mit der Troika, zusammen; das hier darf keine Sackgasse sein.« Das ist nicht das, was ich von meinen Gegenüber gehört habe – weder vom Vorsitzenden der Eurogruppe (Jeroen Dijsselbloem) noch von Dr. Schäuble, das war eindeutig. An einer bestimmten Stelle wurde ich sehr geschlossen damit konfrontiert: »Das ist ein Pferd, entweder Sie steigen auf oder es ist tot.«
Okay, wann war das?
Gleich zu Anfang, ganz am Anfang. (Das erste Treffen fand Anfang Februar statt.)
Also: Warum sind Sie bis zum Sommer da geblieben?
Naja, es gab keine Alternative dazu. Unsere Regierung wurde mit einem Mandat gewählt, Verhandlungen zu führen. Unser wichtigstes Mandat war, Zeit und Raum für Verhandlungen zu schaffen und zu einer anderen Übereinkunft zu kommen. Das war unser Mandat – unsere Aufgabe war es zu verhandeln, es ging nicht darum, sich mit den Gläubigern zu überwerfen. Die Verhandlungen dauerten ewig, weil die andere Seite sich weigerte, zu verhandeln. Sie bestanden auf einer »umfassenden Lösung«, was bedeutete, dass sie über alles reden wollten. Meine Interpretation ist, dass wenn du sagst, dass du über alles reden möchtest, du eigentlich nichts besprechen willst. Aber wir haben mitgemacht. Und, sehen Sie, es wurden absolut gar keine Vorschläge von denen vorgelegt. Was sie taten ... lassen Sie mich ein Beispiel dafür geben. Sie sagen, wir brauchen alle finanziellen Daten, die für Griechenland wichtig sind, wir brauchen alle Daten zu Betrieben in Staatseigentum. Also haben wir eine Menge Zeit damit verbracht, ihnen diese Daten zur Verfügung zu stellen und Fragebögen zu beantworten und diese Daten in unzähligen Treffen vorzustellen.
Das war die erste Phase. Die zweite Phase bedeutete, dass sie uns fragten, was wir in puncto Mehrwertsteuer unternehmen wollten. Dann lehnten sie unseren Vorschlag ab, aber stellten selbst keinen eigenen Vorschlag in den Raum. Und dann, bevor wir die Chance einer Einigung über die Mehrwertsteuer mit ihnen finden konnten, wechselten sie zum nächsten Thema, etwa Privatisierung. Sie fragten uns, was wir bezüglich der Privatisierung anstellen wollten, wir erstellten einen Plan, sie lehnten ihn ab. Dann gingen sie zum nächsten Thema, wie Renten, über, dann zu Absatzmärkten, von da zu Arbeitsmärkten und Tarifpartnerschaft, von Arbeitsmärkten zu allem möglichen anderen. Es war also, als ob eine Katze ihren eigenen Schwanz jagt.
Wir fühlten, die Regierung fühlte, dass wir diesen Prozess nicht abbrechen dürfen. Sehen Sie, mein Vorschlag zu Beginn war dieser: Das ist ein Land, das vor einer langen Zeit auf Grund gelaufen ist. ...Natürlich müssen wir dieses Land reformieren – wir stimmen hier überein. Weil Zeit so wichtig ist und die Zentralbank uns [die griechischen Banken] während der Verhandlungen das Geld abdrehte, um uns unter einen Druck zu setzen, dem wir nicht standhalten, war mein Vorschlag die ganze Zeit über ein sehr einfacher: Lasst uns Einigkeit über drei oder vier wichtige Reformen erzielen, etwa das Steuersystem, die Mehrwertsteuer, und sie umgehend umsetzen. Und schon hätte man die Liquiditäts-Restriktionen der EZB abschwächen können. Ihr wollt eine umfassende Lösung – lasst uns weiter verhandeln – und in der Zwischenzeit lasst uns diese Reformen im Parlament als Übereinkunft zwischen uns und euch vorstellen.
Aber sie sagten: »Nein, nein, nein, das muss eine vollständige Überprüfung (der Maßnahmen) geben. Nichts wird umgesetzt, sollten sie es wagen, irgendwelche Gesetze einzubringen. Dies wird als einseitiges Handeln verstanden, das den Einigungsprozess behindert.« Und dann, ein paar Monate später, steckten sie natürlich zu den Medien durch, dass wir das Land nicht reformiert hätten und Zeit vergeudeten! Und so... [kichert] wurden wir auf eine gewisse, wichtige Weise, in die Falle gelockt.
Zum Zeitpunkt, an dem die Liquidität fast vollständig verschwunden war, und wir in Zahlungsrückstand oder Quasi-Zahlungsrückstand gegenüber dem IWF gerieten, stellten sie ihre Vorschläge vor, die absolut unmöglich waren... vollständig undurchführbar und schädlich. Sie verzögerten die Reformen also und machten dann die Sorte von Vorschlag, die man seinem Gegenüber macht, wenn man keine Einigung erzielen will.
Haben Sie versucht, mit Regierungen anderer verschuldeter Staaten zusammenzuarbeiten?
Die Antwort ist nein. Und der Grund dafür ist sehr einfach: Von Anfang an haben die betreffenden Länder überdeutlich klargestellt, dass sie die energischsten Feinde unserer Regierung sind, von Anfang an. Der Grund hierfür ist, dass ihr größter Albtraum unser Erfolg ist: Hätten wir es geschafft, einen besseren Deal für Griechenland auszuhandeln, würde sie das politisch natürlich vernichten, sie müssten ihrer eigenen Bevölkerung erklären, warum sie nicht so verhandelt haben, wie wir es taten.
Und gemeinsam mit Parteien, die mit Ihnen sympathisieren, wie etwa die spanische Podemos?
Nicht wirklich. Ich meine, wir hatten immer ein gutes Verhältnis zu ihnen, aber es gab nichts, was sie hätten tun können – ihre Stimme wäre niemals in die Eurogruppe gedrungen. In der Tat war es so, dass je mehr sie sich für uns aussprachen, was sie taten, umso feindseliger wurde der Finanzminister ihres Land [Luis de Guindos] uns gegenüber.
Und der britische Finanzminister George Osborne? Wie waren ihre Verhandlungen mit ihm?
Oh, sehr gut, exzellent. Aber er ist nicht mit dabei, er ist nicht in der Eurogruppe. Als ich mit ihm zu unterschiedlichen Anlässen sprach, merkte ich, dass er sehr verständnisvoll war. Wenn man den »Telegraph« aufschlägt, waren ja tatsächlich die Tories die größten Unterstützer unserer Sache! Wegen ihres Euroskeptizismus; da gibt es eine an dem Philsophen Edmund Burke orientierte Sicht der Souveränität des Parlaments – in unserem Fall war eindeutig, dass das Parlament wie Dreck behandelt wurde.
Was ist generell das größte Problem in der Funktionsweise der Eurogruppe?
Es gab einen Moment, an dem der Präsident der Eurogruppe sich dazu entschied, sich gegen uns zu positionieren, uns effektiv ausschloss und in der Öffentlichkeit erklärte, dass Griechenland sich im Grunde auf dem Weg raus aus der Eurozone befindet. Es gibt die Tradition, dass die Erklärungen der Eurogruppe einstimmig sein müssen und ihr Präsident kann nicht einfach ein Treffen einberufen und einen Mitgliedsstaat rausschmeißen. Und er sagte: »Oh, ich bin mir sicher, dass ich das tun kann.« Also fragte ich nach einer juristischen Einschätzung. Das hat ein bisschen für Durcheinander gesorgt. Für fünf oder zehn Minuten wurde das Treffen unterbrochen, Mitarbeiter, Offizielle redeten miteinander, telefonierten. Schließlich richtete ein Offizieller, ein juristischer Experte das Wort an mich und sagte die folgenden Worte: »Nun, die Eurogruppe gibt es juristisch gesehen gar nicht, es gibt keinen Vertrag, der die Einberufung dieser Gruppe regelt.«
Was wir also haben, ist eine nicht-existente Gruppe, die die größte Macht besitzt, die Leben der Europäer vorzubestimmen. Sie ist niemandem verpflichtet, da sie juristisch nicht existiert; keine Protokolle aufbewahrt und vertraulich agiert. Also wird kein Bürger jemals erfahren, was darin diskutiert wurde. ... Das sind fast Entscheidungen über Leben und Tod und kein Mitglied muss sich vor irgendjemand rechtfertigen.
Und diese Gruppe wird von der deutschen Position dominiert?
Komplett und restlos. Aber nicht von Einstellungen – sondern vom deutschen Finanzminister. Es funktioniert alles wie in einem gut abgestimmten Orchester, in dem er der Dirigent ist. Alles passiert in Abstimmung miteinander. Es gibt Momente, in denen das Orchester verstimmt ist, aber er holt es zusammen und bringt es zurück auf Linie.
Gibt es keine andere Macht in der Eurogruppe, können die Franzosen nichts entgegensetzen?
Nur der französische Finanzminister hat Töne von sich gegeben, die sich von der deutschen Linie unterscheiden, und diese Töne waren sehr dezent. Man konnte spüren, dass er eine sehr juristische Sprache benutzen musste, damit er nicht als Abweichler gilt. In der abschließenden Analyse, wenn Doc Schäuble antwortete und im Grunde die offizielle Linie vorgab, zog der französische Finanzminister immer zurück und akzeptierte das.
Lassen Sie uns über Ihren theoretischen Hintergrund und Ihren Text über Marx aus dem Jahr 2013 sprechen. Sie schrieben:
»Ein griechischer, ein portugiesischer oder ein italienischer Austritt aus der Eurozone würde schnell zu einem Zerfall des Europäischen Kapitalismus führen, es würde eine ernste rezessionäre Überschussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen entstehen, während der Rest Europas sich im Griff brutaler Stagflation befinden würde. Wer würden Sie glauben, profitiert von so einer Entwicklung? Eine progressive Linke, die Phönix gleich aus der Asche Europas öffentlicher Institution aufersteht? Oder die Goldene-Morgenröte-Nazis, die auserwählten Neofaschisten, die Fremdenfeinde, die Ganoven? Ich habe überhaupt keinen Zweifel darüber, wem von beiden es nach einem Zerfall der Eurozone besser gehen würde.«
Würde ein Grexit der Goldenen Morgenröte also unvermeidlich helfen, denken Sie das noch immer?
Nun ja, sehen Sie, ich glaube nicht an die deterministischen Versionen von Geschichte. SYRIZA ist jetzt eine sehr dominante Kraft. Falls wir es hinbekommen sollten, gemeinsam aus diesem Schlamassel herauszukommen und einen Grexit ordentlich handhaben ... wäre eine Alternative möglich. Aber ich bin mir nicht sicher, dass wir das hinbekommen, weil es erhebliche Expertise voraussetzt, den Zusammenbruch einer Währungsunion zu steuern. Und ich bin mir nicht sicher, dass wir die hier in Griechenland ohne Hilfe von außen besitzen.
Sie müssen seit dem ersten Tag über einen Grexit nachgedacht haben…
Ja, absolut.
...sind Vorbereitungen getroffen worden?
Die Antwort lautet Ja und Nein. Es gab eine kleine Gruppe, ein »Kriegskabinett« innerhalb des Ministeriums, ungefähr fünf Leute die folgendes gemacht haben: Wir haben das theoretisch, auf dem Papier ausgearbeitet, alles, das im Falle dessen gemacht werden müsste [um sich auf den Fall des Grexit vorzubereiten]. Aber es ist die eine Sache, das mit vier oder fünf Leuten zu machen, es ist etwas ganz anderes, ein Land darauf vorzubereiten. Um das Land darauf vorzubereiten, müsste eine Entscheidung der Regierungsspitze getroffen werden – und diese wurden nie getroffen.
Und in der letzten Woche? Haben Sie verspürt, dass Sie sich auf diese Entscheidung zubewegen [einen Grexit vorzubereiten]?
Meine Sicht der Dinge war, dass wir aufpassen müssen, ihn nicht auszulösen. Ich wollte nicht, dass das zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Ich wollte nicht, dass Nietzsches bekanntes Diktum wahr wird, nach dem man, wenn man lang genug in den Abgrund starrt, der Abgrund beginnt zurückzustarren. Aber ich habe ebenfalls in dem Moment geglaubt, an dem die Eurogruppe die Banken geschlossen hat, dass wir diesen Prozess vorantreiben sollten.
Okay. So weit ich es erkennen kann, gab es zwei Optionen – einen unmittelbaren Grexit oder die Ausgabe von Schuldscheinen (IOUs) und die Übernahme der Kontrolle über die griechische Zentralbank [möglicherweise aber nicht zwingend einen Grexit vorwegnehmend]?
Sicher, sicher. Ich habe nie geglaubt, dass wir sofort zu einer eigenen Währung übergehen sollten. Mein Standpunkt, den ich gegenüber der Regierung vertreten habe, war, dass, falls sie versuchen sollten, unsere Banken zu schließen, was ich als ein aggressives Manöver von unglaublicher Wucht einschätzte, wir auch aggressiv antworten sollten, allerdings ohne den Point of no Return zu überschreiten.
Wir sollten unsere eigenen Schuldscheine ausgeben oder wenigstens verkünden, dass wir unsere eigene, an den Euro gebundene Währung einführen; wir sollten einen Schuldenschnitt an den griechischen Anleihen vornehmen, die seit 2012 von der EZB gehalten werden oder ankündigen, dies zu tun; und wir sollten die Kontrolle der Griechischen Zentralbank übernehmen. Das war das Tryptichon, das waren die drei Dinge, mit denen ich glaubte, auf eine Bankenschließung in Griechenland durch die EZB reagieren zu können.
Ich habe das Kabinett davor gewarnt, dass dies passieren würde, einen Monat lang, dass sie die Bankenschließung erzwingen, um uns eine demütigende Vereinbarung aufzudrängen. Als es passierte – und viele meiner Kollegen konnten nicht glauben, dass es passierte – war mein Vorschlag , »energisch« zu reagieren. Sagen wir mal, ich wurde überstimmt.
Und wie kurz davor war es, dass es doch passiert?
Lassen Sie es mich so sagen: Von sechs Leuten waren wir eine Minderheit von zwei. ... Dann erhielt ich die Anweisungen, die Banken in Übereinstimmung mit der EZB und der griechischen Nationalbank zu schließen. Ich war dagegen, aber ich tat es, weil ich ein Teamplayer bin, ich glaube an kollektive Verantwortung.
Und dann kam das Referendum und es gab uns einen unglaublichen Aufwind, einen der diese Art energischer Antwort auf die EZB gerechtfertigt hätte. Aber noch in der Nacht hat die Regierung beschlossen, dass der Wille des Volkes, das schallende »Nein«, den energischen Plan nicht »energetisieren« sollte.
Stattdessen führte es zu massiven Zugeständnisse an die Gegenseite: Das Ratstreffen der politischen Führer, in dem unser Premierminister akzeptierte, dass was auch immer passiert, was auch immer die Gegenseite tut, wir nicht so reagieren werde, dass wir sie wirklich herausfordern. In der Sache bedeutet dies Rückzug. ... Man hört auf zu verhandeln.
Sie können nicht mehr viel Hoffnung haben, dass der Deal besser wird als der in der letzten Woche – falls es nicht sogar schlimmer wird?
Wenn überhaupt wird es schlimmer werden. Ich hoffe und vertraue darauf, dass unsere Regierung auf einer Umschuldung beharrt, aber ich kann nicht erkennen, dass der deutsche Finanzminister jemals so etwas auf einem der nächsten Treffen der Eurogruppe unterschreibt. Falls doch, wäre das ein Wunder.
Exakt – weil, so wie Sie es beschrieben haben, sie an diesem Punkt nicht mehr über eine Verhandlungsmasse verfügen.
Das denke ich. Falls er [Schäuble] seinen Marschbefehl nicht doch von der Kanzlerin erhält. Da muss abgewartet werden, ob sie nicht dazwischen geht, um das zu tun.
Um noch mal zurückzutreten, könnten Sie uns vielleicht in einfachen Worten für unsere Leser ihre Kritik an Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« erklären?
Lassen Sie mich zuerst festhalten, dass mich das in Verlegenheit bringt, weil Piketty mich und meine Regierung enorm unterstützt hat und ich sein Buch in meiner Rezension wirklich schrecklich verrissen habe! Ich habe seine Haltung während der letzten Monate sehr geschätzt und ich werde ihm das sagen, wenn ich ihn im September treffe.
Aber meine Kritik an seinem Buch bleibt bestehen. Seine Gefühl ist richtig. Seine Abscheu gegenüber Ungleichheit. Aber seine Analyse unterminiert, so wie ich das sehe, das Argument. Denn sein neoklassisches Modell des Kapitalismus lässt sehr wenig Raum für den Fall, den er entwerfen möchte. Außer er setzt auf ein bestimmtes Set spezifischer Parameter, die seine eigene Sache untergraben. Mit anderen Worten: Wenn ich ein Gegner seiner These wäre, das Ungleichheit im Kapitalismus eingebaut ist, könnte ich seine Studie durch einen Angriff auf seine Analyse auseinandernehmen.
Ich möchte nicht zu detailliert werden, weil es nicht das letzte Urteil sein wird...
Ja...
Aber es geht um seine Maße für Wohlstand?
Ja, er benutzt eine Definition von Kapital, die es unmöglich macht, Kapital zu verstehen – es ist also eine contradictio in adjectio. [Siehe auch: http://yanisvaroufakis.eu/2014/10/08/6006/—for Varoufakis’ critical review of Piketty’s Capital.]
Lassen Sie uns noch einmal über die Krise sprechen. Ich verstehe noch sehr wenig von Ihrem Verhältnis zu Tsipras…
Ich kenne ihn seit Ende 2010, weil ich ein prominenter Kritiker der damaligen Regierung war, auch wenn ich ihr ein Mal nahe stand. Ich war eng mit der Papandreou-Familie verbunden – ich bin es in gewisser Weise immer noch – aber ich wurde prominent ... damals waren es große Neuigkeiten, dass ein früherer Berater sagt: »Wir tun so, als ob der Bankrott nicht geschehen ist, wir überspielen das durch neue nicht nachhaltige Kredite«. Solche Sachen halt.
Ich habe damals ein paar Wellen verursacht und Tsipras war ein sehr junger Parteiführer, der versuchte zu verstehen, was passiert und worauf die Krise zurückging und wir er sich in ihr verhalten sollte.
Gab es ein erstes Treffen, an das Sie sich erinnern können?
Oh ja. Das war Ende 2010, wir gingen in eine Cafeteria, wir waren zu dritt und meine Erinnerung ist, dass er damals noch nicht ganz sicher war, was seine Sicht auf das Thema Drachme vs. Euro und die Gründe der Krise angeht. Und ich hatte eine sehr, na, soll ich sagen: »gefestigte Sicht« auf das, was da passierte. Ein Dialog begann, der sich über die Jahre erstreckte und in dem ich, so glaube ich, dabei half seine Sicht auf das, was geschehen müsste, zu formen.
Wie fühlt es sich nun an, nach viereinhalb Jahren nicht mehr mit ihm zu arbeiten?
Ich empfinde das nicht so, ich empfinde, dass wir uns sehr nahe sind. Unsere Trennung war extrem freundschaftlich. Wir hatten niemals ein großes Problem zwischen uns, nie, nicht bis zum heutigen Tag. Und ich bin ebenfalls sehr eng mit Efklidis Tsakaltoso verbunden [dem neuen Finanzminister].
Ich nehme an, sie sprechen mit beiden noch in dieser Woche?
Ich habe in dieser Woche nicht mit dem Premierminister gesprochen, nicht in den letzten Tagen, aber ich spreche mit Efklidis. Ja, und ich empfinde Efklidis als mir sehr nahe und umgekehrt und ich beneide ihn nicht im Geringsten [kichert].
Wären Sie schockiert, wenn Tsipras zurückträte?
Mich schockiert in diesen Tagen nichts. Unsere Eurozone ist ein sehr unwirtlicher Ort für anständige Leute. Es würde mich auch nicht schockieren, wenn er bleibt und ein sehr schlechtes Abkommen akzeptiert. Denn ich kann verstehen, dass er eine Verpflichtung gegenüber den Menschen fühlt, die ihn dabei unterstützen, uns unterstützen, dieses Land nicht zu einem gescheiterten Staat werden zu lassen.
Aber ich werde nicht meine eigene Sicht verraten, die ich damals, 2010, entwickelte, nämlich dass dieses Land aufhören muss, neue Kredite aufzunehmen und so zu tun, als ob wir das Problem gelöst hätten, wenn es nicht stimmt. Wenn wir unsere Schulden noch weniger nachhaltig gestalten, sogar unter Konditionen von noch mehr Austerität, wird das unsere Wirtschaft noch weiter schrumpfen lassen und die Last denen aufbürden, die nichts besitzen und dadurch eine humanitäre Krise verursachen. Das ist etwas, das ich nicht akzeptieren werde. Ich werde da nicht mitmachen.
Letzte Frage: Werden Sie weiter in Kontakt mit irgendjemand bleiben, mit dem Sie verhandeln mussten?
Ähm, ich bin mir nicht sicher. Ich werde jetzt keine Namen nennen, um keine Karrieren zu zerstören.
Das Gespräch mit Yanis Varoufaksi erschien zuerst im »New Statesman«. Für die freundliche Kooperation hinsichtlich Rechte an der deutschen Übersetzung bedanken wir uns.
Übersetzung: David Bebnowski
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