Fürsorge? Fehlanzeige
Der Berliner Senat plant ein Bettelverbot für Kinder unter 14 Jahren
Violetta M. geht mit einem kleinen Pappschild von Passantin zu Passant. Die junge Frau im langen, schwarz-rosa gestreiften Rock läuft den Berliner Kurfürstendamm entlang, im Kinderwagen sitzt ihr zweijähriger Sohn. Eigentlich bräuchte sie ihren Zettel nicht, denn sie spricht gut Deutsch, der weiche Akzent klingt ein wenig Österreichisch. Aber rechtlich ist es besser, nichts zu sagen. Sie bittet die Mitmenschen um Unterstützung für sich und ihre beiden Kinder. »Wenn sie nichts geben, gehe ich weiter.«
Am Ende des Tages läppern sich zehn oder 20 Euro in kleinen Münzen zusammen. Seit ein paar Monaten geht sie zwei bis drei Mal in der Woche für einige Stunden am Zoo betteln. Ein paar Mal wurde sie von Polizei oder Ordnungsamt weggeschickt. Bald schon sollen Frauen wie Violetta scharf verfolgt werden, geht es nach Innensenator Frank Henkel und seinem Staatssekretär Bernd Krömer (beide CDU). Bürger hätten sich bei Krömer beschwert, auch würden ihn selbst die Bettlerinnen vor seinem Lichtenrader Supermarkt stören. Auf Nachfrage betont er jedoch, dass es ihm um Kindeswohl, Fürsorge- und Aufsichtspflicht gehe.
Betteln ist seit 1974 in Deutschland erlaubt. Bremen und München haben aber 1994 beziehungsweise 2014 bandenmäßiges Betteln, Vortäuschen von Behinderungen oder das Betteln mit Kindern verboten. Bernd Krömer begründet nun den Berliner Vorstoß damit, dass Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt würden und eingesammeltes Geld in kriminelle Strukturen im Hintergrund wandere. Beweise bleiben Politiker wie Polizei aber schuldig. Für gesellschaftliche Fantasie halten Sozialforscher die vorurteilsbeladenen Konstrukte von großen kriminellen Roma-Clans. »Maßgeblich Politiker nutzen in der Debatte um angebliche Armutszuwanderung und wider besseres Wissen das Feindbild Roma aus und verstärken damit einen massiven Antiziganismus« beklagt Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Die vielschichtige Kultur der Roma stellt mit zwölf Millionen Menschen die größte europäische Minderheit, sechs Millionen davon sind EU-Bürger. Aber das Bild der Roma ist noch immer negativ geprägt, und es scheint am politischen Willen zu mangeln, dies zu ändern.
Im Gegenteil: Das Gesetz des Berliner Senats multipliziert bestehende Vorurteile und kriminalisiert da, wo Hilfe und Integration sinnvoller wäre. Der Kinderschutzbund (KSB) kritisiert das Gesetz generell als oberflächlich, da es nur Symptome bekämpfe und nicht die Gründe. »Man muss generell etwas gegen Kinderarmut tun, Geldstrafen und die Herausnahme aus Familien sind der falsche Weg« kritisiert der KSB-Vorsitzende Heinz Hilgers.
Violettas Mann hatte bereits einige Jahre auf den Baustellen der Hauptstadt gearbeitet, bevor sie ihm vor drei Jahren gemeinsam mit der Mutter nachfolgte. Sie fand einen Job als Putzfrau im Hotel. Ihr täglicher Verdienst lag bei 20 oder 30 Euro. »Das waren gute Jobs, aber gerade finde ich nichts«, sagt sie und deutet auf ihren Sohn, der zu ihr hinaufblickt. Kürzlich hatte sie einen der raren Plätze in der Kita bekommen, aber der Sohn wollte nicht dort bleiben. »Wenn er ein bisschen größer ist, werde ich es noch mal probieren«, sagt sie und lächelt ihn an. Dann will sie sich auch wieder eine feste Arbeit suchen. »Es ist für uns Roma aber nicht so einfach mit dem Lohn. Mal bekam ich was, mal nicht.« Deswegen findet sie ihre Arbeit auf der Straße in Ordnung, sie sei ja bedürftig und es wäre besser, als jeden Monat beim Chef um den Lohn zu betteln. »Wenigstens behandelt man uns hier in Deutschland wie Menschen. In Rumänien wird man auf der Straße angespuckt. Arbeit gibt es für uns dort schon lange nicht mehr.«
Die Verschärfung des Bettelverbots im Herbst innerhalb des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) sieht vor, dass die Begleitperson eines bettelnden Kindes mit bis zu 500 Euro belangt wird oder wahlweise eine Ersatzhaftstrafe antritt. Letztere würde zu gesellschaftlicher Stigmatisierung und zu hohen Kosten für das Land Berlin führen. Ein Tag Knast kostet 130 Euro. Doch Krömer ist vom »Abschreckungseffekt« überzeugt, man könne schließlich nicht alles mit Sozialarbeitern lösen.
Marija K. ist Bewohnerin des Neuköllner Arnold-Fortuin-Hauses. Betteln würde sie nie, sagt sie. Die meisten hier haben Jobs, alle Kinder gehen zur Schule, so Projektleiter Benjamin Marx. Es gibt kostenlose Deutschkurse und zweimal in der Woche Sozialberatung. Die Gegend war früher nicht die beste: Wie viele Nachbarhäuser war das Haus in der Harzer Straße heruntergekommen und dreckig. 2012 wurde es von einer kirchlichen Siedlungsgesellschaft übernommen, die 137 Wohnungen wurden renoviert und 2012 folgte die Wiedereröffnung. Entgegen üblichen Gentrifizierungsmethoden blieben die Mieten akzeptabel und die Altmieter, darunter viele Roma, erhielten reguläre Verträge. Marx erklärt, dass das kein »Roma-Haus« sei, wie die Medien schreiben würden. »Es ist ganz normal und nichts Besonderes.«
Marija, eine Frau Mitte 30, sitzt auf dem Polstersofa in ihrem Wohnzimmer, neben ihr angelehnt die neunjährige Tochter. »Aber wer garantiert eigentlich, dass das neue Gesetz nicht auch mich trifft, wenn ich mit meinen Kindern auf der Straße unterwegs bin?« fragt Marija und nippt vom Kaffee. Sie hat schon viele Polizeikontrollen erlebt. Mittlerweile geht sie einer regelmäßigen Arbeit als Altenpflegerin nach, aber bis zum Arbeitsvertrag war es sehr schwierig. »Wie die meisten Roma wollte ich meine Herkunft verstecken, aber das kannst du ja nicht beim Vorstellungsgespräch, die sehen dich doch.« Viele haben sich herausgeredet, man brauche keine Pflegerinnen mehr. Nach über 20 Bewerbungen fand sie schließlich eine Chefin, der ihre Herkunft egal war.
Auch ihre Kinder konnte sie nicht ohne weiteres bei der Schule anmelden. »Am Anfang wohnten wir im Wedding, und die eine Schule schickte uns einfach wieder weg zu einer anderen. Die war aber gar nicht für uns zuständig. Und als wir wiederkamen, hieß es, es gebe keine Plätze.« Fünf Monate lang fragte sie immer wieder nach der Bearbeitung ihrer Anträge. Schließlich ging sie zur Beratung bei einem Verein. Der machte ihr Mut und, vor allem, stellte einen Anwalt. Den Schulplatz bekamen die Kinder dann innerhalb von einer Woche. »Dramatisch« sei die Diskriminierung bestätigt Christine Lüders, Vorsitzende der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, denn bis heute gibt es im den Ländern unterstellten Bildungsbereich, wo das Antidiskriminierungsgesetz nicht greift, erhebliche Beeinträchtigungen für Minderheiten.
Auf der einen Seite expandieren Unternehmen im osteuropäischen Raum, treiben die dortigen Preise in die Höhe und importieren zu Dumpingpreisen, auf der anderen Seite werden Zuwanderer stigmatisiert. Während Europa bisher nur als Wirtschaftsraum gedacht wurde, fehlt es an gemeinsamen sozialen Konzepten. Auch wenn das Betteln mitnichten ein romaspezifisches Thema ist - in der EU leben 24 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, darunter zahlreiche Kinder - muss dennoch kritisiert werden, dass Deutschland zusätzliche Millionen aus dem Europäischen Sozialfonds zur Unterstützung der größten Minderheit Europas hätte abrufen können, es aber nicht tat.
Sollte das Bettelverbot eingeführt werden, wird Violetta M. ihre beiden Kinder zu Hause bei der Mutter lassen. Andere haben keinen Kitaplatz und keinen, der sich kümmern könnte. »Was sollen die denn mit ihren Kindern machen?« fragt sie und zuckt mit den Schultern. Heute hat sie 12,70 Euro bekommen. »Das ist ziemlich gut für vier Stunden Arbeit«. Sie füllt die Flasche am Wasserspender auf und gibt sie ihrem Kind. Dann legt sie mir die Hand auf die Schulter, verabschiedet sich und verschwindet im Menschengewirr der Joachimsthaler Straße.
Mit dem geplanten Bettelverbot für Kinder macht der Berliner Senat offenbar vorgezogenen Wahlkampf, lässt jedoch mehr Fragen offen, als er beantwortet. Wie sollen Bettelnde überhaupt Geldstrafen begleichen? Wie leichtfertig sollen Menschen eingesperrt und Kinder aus Familien genommen werden? Sind Strafen unsere einzige Antwort auf die sich öffnende soziale Schere innerhalb Europas? Diese Politik sagt viel darüber aus, wie wir in Zukunft Europa gestalten und mit Minderheiten umgehen wollen.
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