Freiwillig rein in den Stau

Gerade zur Ferienzeit werden die mobilen Helfer des Roten Kreuzes dringend gebraucht - ein Bericht aus Bayern

  • Nico Pointner, Augsburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Sommer, Süden - Stress im Stau? Wenn alles steht, stürzen sich die Motorradstreifen des Roten Kreuzes ins Getümmel. Sie sind Ersthelfer, betreuen Unfallbeteiligte, helfen Polizei und Rettungsdiensten.

Ein Freitag im Juli, 15.53 Uhr, Unfall auf der Bundesstraße 2 bei Mertingen, einer schwäbischen Gemeinde zwischen Donau und Lech. An einem Kleinbus ist ein Reifen geplatzt. Der Fahrer ist mit dem Wagen und einem Anhänger voller Beton ins Gebüsch geschleudert. Eine Spur ist komplett dicht. Günter Heidler steht auf dem Standstreifen und begutachtet die zwei Kilometer lange Blechkolonne. Die Autos fädeln sich im Reißverschlussprinzip an der Unfallstelle vorbei. »Fast zu schnell für zäh fließend«, findet der 55-Jährige. Der Anhänger ist geborgen, die Situation unter Kontrolle. Er schwingt sich wieder auf seine Maschine.

Wenn auf den Straßen nichts mehr geht, stürzt sich Heidler freiwillig ins Gewühl. Der 55-Jährige fährt seit 18 Jahren als mobiler Sanitäter und Stauhelfer mit dem Motorrad Streife für das Bayerische Rote Kreuz. »Das ist ein guter Ausgleich für mich«, erzählt er.

Unter der Woche arbeitet Heidler als Verwaltungsdirektor in einem Krankenhaus. Am Wochenende patrouilliert er mit seiner schweren, orangefarbenen Maschine auf den Autobahnen und Schnellstraßen in der Gegend um Augsburg. Über Funk und Piepser wird er alarmiert, um zu helfen.

Mit den wendigen Motorrädern sind Heidler und seine Kameraden im Ernstfall schnell vor Ort. »Zu 70 Prozent sind wir noch vor dem Rettungsdienst an der Unfallstelle«, sagt der Geschäftsführer des BRK-Kreisverbands Augsburg-Land, Thomas Haugg. Sie versorgen Notfälle als Ersthelfer, betreuen Unfallbeteiligte, unterstützen Polizei und Rettungsdienste. »Wir sind Mädchen für alles«, sagt Haugg.

Besonders in der Urlaubszeit stellen sich die Helfer nun wieder auf kilometerlange Fahrzeugschlangen ein. Bundesweit schicken Organisationen wie der ADAC und die Johanniter im Sommer Stauhelfer auf die Straßen. Im vergangenen Jahr gab es laut ADAC auf deutschen Autobahnen 475 000 Staus mit einer Gesamtlänge von 960 000 Kilometer. Die mittlere Entfernung zwischen Erde und Mond beträgt 384 400 Kilometer. Gemessen an Staustunden lagen Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg an der Spitze.

Vor allem die A 8, Heidlers Revier, ist bekannt für Blechkolonnen. Im Sommer ist die Autobahn Transitroute in den Süden. Derzeit wird sie auf sechs Spuren ausgebaut. »Die A 8 zählt seit Jahren zu den schlimmsten Stauautobahnen überhaupt«, sagt ADAC-Sprecher Johannes Boos.

Wenn nichts mehr geht, beraten die BRK-Biker frustrierte Reisende, informieren auf Rastplätzen, sichern das Stauende. Sie haben schon einiges erlebt. Haugg erinnert sich gut an ein holländisches Ehepaar, das im Stau auf dem Seitenstreifen grillte. »Wenn es heiß ist, drehen die Leute manchmal durch«, sagt er.

Denn Stau bedeutet meist auch Stress. »Kommt drauf an, wie viele Kinder hinten drin sitzen«, sagt Heidler aus Erfahrung. Früher hatten die Motorradstreifen Spielsachen, Windeln und Teddybären an Bord ihrer Maschinen, für die kleinen Stau-Opfer. Heute ist dafür kein Platz mehr zwischen dem Notfall-Equipment: Beatmungsgeräte, Medikamente und Infusionen haben Vorrang.

Heidler steht mit seinen Kollegen auf einem Rastplatz an der A 8. Dann hält er inne. Das Funkgerät gibt knarrende Töne von sich - die Leitstelle meldet einen Unfall an der Ausfahrt Augsburg-West. Heidler und sein Kollege steigen auf, mit Sirene, Blaulicht und hohem Tempo schlängeln sie sich über die volle Autobahn. Im Notfall haben die Motorradhelfer Sonderrechte, dürfen die zugelassene Geschwindigkeit übertreten und im Stau in Gegenrichtung fahren. Sie müssen ihre Maschinen beherrschen und umsichtig fahren. »Rettungsrambos brauchen wir nicht«, sagt Thomas Haugg.

Fünf Minuten später steigt Heidler an der Unfallstelle ab. Zwei Wagen sind an einer Kreuzung ineinander gekracht. Auf der Wiese neben der Straße sitzt eine Familie, die Mutter weint, ein Mädchen trägt eine Halskrause. Mit ruhiger Stimme bietet Heidler Hilfe an und beantwortet Fragen. An der Autobahnausfahrt bildet sich wieder eine Schlange aus Blech. »Wichtig ist, die Übersicht zu bewahren«, sagt Heidler. Nach zehn Minuten übernimmt die Polizei. Heidler steigt auf seine Maschine. Auch privat fährt er gern Motorrad. Dann meidet er aber die Autobahnen: »Dann fahre ich dahin, wo kein Stau ist.« dpa/nd

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