Erdogans Aufmarsch an zwei Fronten
Der Schlag des türkischen Staates geht sowohl gegen Islamisten als auch Kurden / USA dürfen Incirlik nutzen
Die Ereignisse überschlugen sich geradezu: Am Mittwoch gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinem US-Kollegen Barack Obama endlich grünes Licht für Incirlik. Von dieser US-amerikanischen Luftwaffenbasis in der Türkei aus durften bisher keine Operationen gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien geführt werden. Wohl kurz darauf wurde an der Grenze zu Syrien ein türkischer Unteroffizier vermutlich von Militanten des IS erschossen.
In der Nacht zu Freitag bombardierten türkische Jets vom eigenen Luftraum aus mehrere Stellungen des IS. Bei einem Angriff auf einen Sammelpunkt sollen 35 Kämpfer des IS getötet worden sein; was sich nicht nachprüfen lässt. In den Morgenstunden waren dann Tausende von Polizisten unterwegs, um in mehreren Städten mutmaßliche IS-Helfer, aber auch Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und einer linken Organisation festzunehmen.
Die Regie bei dieser plötzlichen Wende führt eindeutig Erdogan. Obwohl er als Präsident außerhalb der Regierung steht, traf er die Absprache mit Obama, die Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nun umsetzen muss. Am Donnerstag hatte sich Erdogan demonstrativ mit dem für den Nationalen Nachrichtendienst (MIT) zuständigen Staatssekretär Hakan Fidan getroffen, um die Lage zu besprechen. Dabei untersteht der MIT eigentlich direkt Davutoglu, der bei dem Gespräch aber nicht einmal anwesend war.
Zu den Gründen, die Erdogans Kurswechsel ausgelöst haben könnten, gehört sicher die Erkenntnis, dass es nichts hilft, die IS-Gefahr kleinzureden, während die Kämpfe zwischen IS und Kurden bereits auf die Türkei überzugreifen beginnen. Ein deutliches Warnsignal war der Anschlag am Montag auf eine Gruppe kurdischer Aufbauhelfer, die nach Kobane gehen wollten, bei dem 32 Menschen starben. Vizepremier Bülent Arinc machte zwar eine Anspielung, wonach die Kurden die Bombe eventuell selbst gelegt hätten - was viele türkische Nationalisten ohnehin glauben -, aber es ist nur zu offensichtlich, dass mit dem Anschlag der syrische Bürgerkrieg über die Grenze zu kommen droht. Allerdings sollte man bei allem, was derzeit in der Türkei geschieht, nicht vergessen, dass in Ankara noch immer keine Regierung gebildet werden konnte.
In dieser Hinsicht ist es nicht unwesentlich, dass Erdogan gleichzeitig an zwei Fronten aufmarschiert. Neben dem IS sind auch die Kurden betroffen, deren wichtigste Kraft, die Demokratische Partei der Völker (HDP), Erdogan bei den Wahlen im Juni viele Stimmen abgenommen hat. Ein harter Kurs gegen die HDP mit der Begründung des Antiterrorkampfes könnte Erdogan sowohl türkisch-nationalistische Wähler zurückbringen als auch dafür sorgen, dass die HDP wieder unter die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament fällt bei einer möglichen Neuwahl. Dass sich dieser Antiterrorkampf gleichzeitig gegen den IS und die Kurden richtet, soll Kritiker im In- und Ausland verstummen lassen.
Öl ins Feuer gegossen hat allerdings auf kurdischer Seite auch Abdullah Öcalans PKK. Eine Unterorganisation der PKK hat sich zu einem Mord an zwei türkischen Polizisten bekannt, die mit dem IS zusammengearbeitet haben sollen. Dass die HDP die Morde nicht sofort entschieden verurteilt hat, spricht nicht gerade für die politische Reife der kurdischen Bewegung, die in ihrem Kern noch immer ein Verein zur Verehrung von Öcalan ist.
Andererseits ist die Öffnung von Incirlik und wohl auch anderer Militärflughäfen in der Türkei für Angriffe auf den IS von erheblicher strategischer Bedeutung. Die Türkei hatte ein Jahr lang für den Gebrauch des Flughafens Bedingungen gestellt, die Obama schwerlich erfüllen konnte, nämlich die Einrichtung einer Flugverbotszone und einer »Sicherheitszone« auf syrischem Gebiet. Das hätte allein der UNO-Sicherheitsrat beschließen können, was Syriens Verbündeter Russland mit seinem Vetorecht wohl verhindert hätte. Nun ist offen, welchen Stellenwert die Türkei für den IS künftig hat.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.