Warmherzig in einem kalten Land
Nicht alle sind Pegida: Viele Menschen auch in Sachsen heißen Flüchtlinge willkommen
Die Entscheidung fiel am Tisch beim Frühstück. In der Zeitung hatten Roswitha und Klaus Schierz über die Zustände im Flüchtlingsheim Bischofswerda gelesen. Familien, die mit ihren kleinen Kindern in winzigen Zimmern hausen, Küche und Toiletten mit Dutzenden Mitbewohnern teilen mussten. In ihrem Haus stand derweil die obere Etage leer: eine schöne Wohnung mit 90 Quadratmetern. »Ruf mal beim Bürgermeister an«, sagte Roswitha Schierz, 73 und langjährige Gemeindeschwester in ihrem Heimatort Steinigtwolmsdorf in der Oberlausitz, zu ihrem Mann: »Wir nehmen bei uns eine Asylfamilie auf.«
Von solchen Anrufen bei Ämtern in Sachsen liest man im Sommer 2015 selten. Vielmehr scheint das Ressentiment zu regieren. Die Schlagzeilen aus dem Freistaat ernüchtern: Heime für Flüchtlinge werden belagert wie in Freital, angezündet wie in Meißen, mit Chemikalien versaut oder unter Wasser gesetzt. Die Zeltstadt in Dresden wird zum Aufmarschplatz für Nazis. Bei Kundgebungen von Pegida, in Leserbriefspalten, selbst auf Veranstaltungen der Landeszentrale für politische Bildung giftet man ungehemmt gegen Flüchtlinge als vermeintliche »Glücksritter«. Im Nachrichtendienst Twitter wird über Sachsen inzwischen unter dem wenig schmeichelhaften Stichwort Kaltland berichtet. Das Land befinde sich auf einer »Rutschbahn rassistischer Mobilisierung«, sagt der Rechtsextremismusexperte David Begrich vom Verein »Miteinander« in Magdeburg: »Man muss sehr aufpassen, dass das jetzt nicht außer Kontrolle gerät.«
Manche Beobachter erinnern sich angesichts der Bilder aus Freital bereits an die frühen Neunziger: an Szenen wie in Hoyerswerda, wo ein feindlich gestimmter Mob Wohnheime von Vertragsarbeitern belagerte und die Staatsgewalt einknickte. Es gibt Unterschiede, sagt Begrich: eine veränderte Arbeitsteilung zwischen Naziszene und »bürgerlicher Mitte« etwa, aber auch eine standhaftere Polizei. Dennoch wirken die Behörden teils heillos überfordert. Manche Veränderung macht Sorge, manche aber auch Hoffnung. 2015 gibt es, anders als vor 25 Jahren, viele Menschen, die sich schützend vor Flüchtlinge stellen, die dem Ressentiment die Stirn bieten - und die ganz praktisch helfen: indem sie Kleidung spenden, für Flüchtlinge übersetzen, mit deren Kindern Fußball spielen oder ihnen gar Obdach bieten. Es gebe, sagt Begrich, inzwischen eine Art »antirassistischer Graswurzelbewegung«.
Roswitha Schierz denkt nicht in so großen Zusammenhängen. Sie räumt vielmehr freimütig ein: »Ich habe ein Helfersyndrom.« In ihrem Berufsleben hatten davon Dorfbewohner mit Wehwehchen einen Nutzen, nun sind es Elza Gazdeliani, ihr Mann Georgi und die drei kleinen Kinder. Ein Foto der jungen Familie, die vor mehr als drei Jahren aus Georgien floh, hatten die Rentner in der Zeitung gesehen. »Wir dachten uns: Kinder im Haus - das wäre etwas«, sagt Klaus Schierz, der früher Mathe und Geografie unterrichtete. Ihre Anfrage landete beim Landratsamt, das die Wohnung und die Mietvorstellung prüfte. Seit Februar muss die georgische Familie nun nicht mehr im Heim leben, sondern freut sich über Platz und Ruhe im Obergeschoss des Hauses in Steinigt-wolmsdorf. Auch ein Badezimmer gibt es, das sie nicht mit Mitbewohnern teilen müssen: »Alles ist gut«, sagt Gazdeliani, eine gelernte Buchhalterin, die aus der umkämpften georgischen Region Abchasien stammt: »Wir fühlen uns wohl hier.«
Angebote wie das von Roswitha und Klaus Schierz sind noch selten in Sachsen; im Landkreis Bautzen, hieß es in Presseberichten, sei ihre die einzige privat an Flüchtlinge vermietete Wohnung. Zu Hilfe ermutigt oder angestachelt aber fühlen sich viele Menschen im Freistaat - solche, die zuvor nur in den Nachrichten von dem Thema hörten, aber auch solche, die sich seit langem für Zuwanderer einsetzen, wenngleich eher grundsätzlich-politisch als praktisch. Der Fußballverein »Roter Stern Leipzig« etwa nimmt seit Jahren an antirassistischen Fußballturnieren teil; die 2. Männermannschaft läuft mit dem Slogan »Kein Mensch ist illegal« auf den Trikots zu Spielen auf. Allerdings sei das Engagement bisher »eher abstrakt und ideell« gewesen: »Praktische Auswirkungen auf unser Vereinsleben hatte es nicht«, sagt Geschäftsführer Adam Bednarsky.
Das wird sich ändern. Im August will der Freistaat in Leipzig-Dölitz eine weitere Erstaufnahmeeinrichtung eröffnen. Sie liegt 200 Meter von den Trainingsplätzen des »Roten Stern« entfernt. Gelegenheit also, um politische Haltung dem »Lackmustest« der Praxis zu unterziehen, wie Bednarsky formuliert. Der Verein, der mit 500 Aktiven größte seiner Art in Leipzig, wendet sich neuen Themen zu. Gemeinsam mit Kirchgemeinden veranstaltete er im Juni im Stadtteil eine Bürgerversammlung - keine jener Zusammenkünfte, auf denen »besorgte« Bürger Dampf ablassen können, sondern eine Debatte, bei der es statt um das Ob der Flüchtlingsunterbringung nur um das Wie ging. Eine Idee, die im Verein nun erörtert wird: Das kostenlose WLAN-Netz, das auf den Sportplätzen von »Roter Stern« installiert wurde, könnte bis zum Heim verlängert werden. Auch über Sportangebote für dessen Bewohner denkt man nach. An diesem Wochenende veranstaltet der Verein wieder den Refugees Welcome Football Cup.
Es wären viele solcher Aktivitäten, die das Land auf der »rassistischen Rutschbahn« bremsen können, sagt David Begrich. Sie könnten ein Gegengewicht setzen zur derzeitigen öffentlichen Wahrnehmung, wonach Rassisten eine Mehrheit bilden. Sie könnten bewirken, dass Zuwanderung nicht als Problem, sondern als Alltagsphänomen wahrgenommen wird - in Stadt und Land. Wenn »Roter Stern« im Leipziger Süden zur Versammlung über das Erstaufnahmeheim einlädt, »weiß jeder, dass er keine dicken Backen machen muss«, sagt Bednarsky: »Bei uns weiß man, wofür wie stehen.« Wenn in einem Dorf in der Oberlausitz eine Familie von Asylbewerbern einzieht, ist vorab weniger klar, wie die Reaktionen ausfallen. Im besten Fall zeigt sich, dass die Provinz toleranter ist als erwartet: »Böse Worte«, sagt Roswitha Schierz, »haben wir von niemandem gehört.« Elza Gazdeliani nickt: Beim Einkaufen im Landmarkt würden sie häufig gegrüßt; als ihr jüngster Sohn Lukas im April geboren wurde, hätten sich Nachbarn neugierig nach ihm erkundigt: »Die Leute hier sind sehr freundlich.«
Ist Steinigtwolmsdorf eine Ausnahme? Liegt es daran, dass die Gemeindeschwester und der Lehrer als Autoritäten gelten, denen man nicht widerspricht? Vielleicht. Womöglich aber ließen sich solche Beispiele auch in weit größerer Zahl finden, als es das hässliche Geschrei von Pegida & Co. vermuten lässt. Wenn dem so ist, müsse in der Öffentlichkeit mehr darüber gesprochen werden, sagt Begrich: »Wer Flüchtlinge unterstützt, muss unterstützt werden.« Er verdiene öffentliche Anerkennung - von der Politik, in den Medien. »Was dort geleistet wird«, sagt der Experte, »ist humanitäre Beziehungsarbeit; es ist aber auch politische Intervention.« So, fügt er hinzu, könne Rassismus im Alltag vorgebeugt werden.
Öffentliche Ermutigung sei jedoch auch aus einem anderen Grund wichtig, fügt Begrich an: Sie kann das Durchhaltevermögen der Helfer stärken, wenn die Euphorie nachlässt und die Mühen der Ebene einsetzen. »Es wird Rückschläge geben«, sagt er. Frisch geknüpfte Beziehungen könnten getrennt werden, weil Flüchtlinge wegziehen oder weggehen müssen. Unterschiedliche Ansprüche, Gewohnheiten und Vorstellungen werden aufeinander prallen. Nicht alle der mühsam vorbereiteten Angebote werden angenommen werden. »Wie reagieren die Engagierten, wenn sie eine Sportveranstaltung auf die Beine gestellt haben und womöglich keiner kommt?!«, sagt Adam Bednarsky. »Es wird Enttäuschungen geben«, sagt David Begrich: »Auch die Ermutiger brauchen Ermutigung.«
Dass die Dinge nicht immer ganz einfach sind, haben nach einem halben Jahr auch Roswitha Schierz und Elza Gazdeliani schon erfahren. Die Rentnerin hat anerkennen müssen, dass die jungen Georgier nicht unbedingt Anschluss an die Familie suchen, auch wenn deren dreijährige Tochter sie »Bebo« nennt: Oma. Die jungen Leute wiederum mussten zur Kenntnis nehmen, dass die Leute in Steinigtwolmsdorf zwar freundlich sind, mit einem Job für Georgi aber nicht helfen können. Die Städte wiederum, in denen er ein Auskommen für die Familie verdienen könnte und in denen es bezahlbare Windeln gibt, sind nur nach langer Busfahrt zu erreichen - oder mit Schierz’ Auto. Zwar fahren diese die Georgier ohne zu murren in die Kreisstadt; die aber sind über die Abhängigkeit nicht glücklich. Es sind Probleme, wie sie zwischen Jüngeren und Älteren auch auftreten, wenn sie gleicher Nationalität sind. Probleme aber bleiben es. Vielleicht, sagt Elza Gazdeliani, müssen sie doch wieder wegziehen, dorthin, wo es Arbeit gibt. »Unseren Segen haben sie«, sagt Roswitha Schierz. In die Wohnung, fügt sie an, könnte dann eben eine neue Flüchtlingsfamilie ziehen.
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