#Warmland
Kobane Libre: Fabian Köhler über syrische Flüchtlinge und das Klischee vom »hässlichen Deutschen«. Teil 3 der Serie
An einem der heißesten Tage des Jahres kommt dieser Fremde in irgendein Kaff in der sächsischen Provinz. So ein 300-Einwohner-Nest zwischen Altmetallhandel und Bundesstraße, wo jeder jeden kennt. Schon als Kinder ging man gemeinsam zur Schule; also die, die überhaupt zur Schule gingen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, den Landkreis haben die meisten allenfalls einmal verlassen, wenn die Verwandtschaft aus dem Westen zur Goldenen Hochzeit einlud. Einmal in der Woche kommt der Bäcker auf Rädern. Aber ansonsten bleibt man meist unter sich.
Nun kommt also dieser Fremde, der kaum die Sprache spricht. Die Hose voller Staub, das T-Shirt verschwitzt, die Haare fettig. Sein Deutsch als holprig zu bezeichnen wäre beschönigend. »Ausländer, Ausländer«, rufen die Kinder, als sie ihn von Weitem sehen und strömen lachend aus ihren Häusern. Ein kleiner Ronnie nimmt stolz die Hand des Fremden und lässt sie für die nächsten Stunden nicht mehr los. Eine kichernde Mandy wirft Luftküsse. Günther, der Dorfälteste, bietet an, ihn durch die Straßen zu führen. Am Ende des Tages wurde der Fremde ungefähr acht Mal zum Essen, zwanzig Mal zum Tee und ein Dutzend Mal auf Facebook eingeladen. Er kennt die Lebensgeschichten von Dutzenden Dorfbewohnern. Er weiß, dass Ingrid nachts immer wach wird, seitdem sie ihren Mann im Krieg verloren hat. Dass Justins Traum, Maschinenbau zu studieren, am fehlenden Geld scheiterte. Und dass Susi sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich ihren Bruder wiederzusehen.
Es war einmal ein unbedeutendes Kaff im Norden von Syriens und es wurde zur Vision eines demokratischen Nahen Ostens. nd-Autor Fabian Köhler sucht in dieser Serie nach Kobane. Zwischen Tonnen von Trümmern und unter Tonnen von Klischees.
Teil 1: Hinterm Bordstein geht die Sonne auf
Teil 2: Spielzeug erinnert an »den Tag«
Teil 3: Warmland
Teil 4: Brennt da Kobane?
Teil 5: »Ich habe Angst vor dem Meer. Große Angst«
Teil 6: Lost in Prokrastination
Teil 7: Mitten in der Linsensuppe
Die Geschichte ist nicht frei erfunden, nur in Sachsen spielt sie nicht. Sie spielt in einem syrischen Flüchtlingslager, eine Viertelstunde Fußweg vom türkischen Suruc und zwölf Kilometer von Kobane entfernt. Der verschwitzte Fremde bin ich. Mandy und Ronnie heißen eigentlich Hamudi und Shila. Und nicht nur eine Ingrid hat einen Verwandten im Krieg verloren, sondern jeder einzelne der 300 Bewohner. Wirklich jeder.
Sowieso hinkt der Vergleich hinten und vorn. Wirtschaftliche Verlustängste, fehlende Perspektiven, schlechte Bildung, das Gefühl des von »der Politik« Alleingelassenseins: All dies, womit in Deutschland versucht wird, den Rassismus der »besorgten Bürger« zu erklären (besser: zu rechtfertigen), gibt es nicht nur in diesem Flüchtlingslager tausend Mal schlimmer. Und dennoch geht vor der Containersiedlung kein wütender Mob auf die Straße; gründet niemand in Suruc die Facebook-Gruppe »Nein zum Asylheim«, haben hier die Menschen tatsächlich fast alles verloren – nur nicht ihre Gastfreundschaft, Selbstlosigkeit, Warmherzigkeit. Freilich Dinge, die die besorgten deutschen Bürger erst gar nicht verlieren können, weil sie sie nie hatten.
In den Containern am Rand von Suruc (im Gegensatz zu mancher neuen Zeltstadt in Deutschland übrigens mit Strom und Wasser) hat mich die zwölfjährige Amira heute gefragt, wie es eigentlich den Flüchtlingen in Deutschland geht. Mir kamen die Bilder von Pegida und Freital, die absurd niedrigen Zahlen syrischer Flüchtlinge, die Asylrechtsverschärfungen und CSU-Parolen, die Titelseiten über »falsche Flüchtlinge« und die Kälte der Mehrheitsbevölkerung in den Kopf. Im ersten Teil in dieser Serie habe ich geschrieben, ich wolle den Mythos von Kobane ergründen. Ich verspreche, ich komme in den nächsten Teilen darauf zurück. Aber als ich gestern nach passenden arabischen Begriffen grübelte, um diesem Mädchen, das fünf Geschwister in Kobane verloren hat, eine Antwort auf seine Frage zu geben, während es mir Sahnebonbons anbot, hat sich vor allem mein Klischee vom »hässlichen Deutschen« verändert. In Wahrheit ist er noch viel viel hässlicher.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.