»Corbynmania« bei Labour
Ein Sozialist hat beste Chancen auf den Vorsitz der britischen Arbeitspartei
Das eigentlich urlaubsreife Westminster schaut gebannt auf die Labour Party: Jeremy Corbyn ist der Spitzenreiter im aktuellen Kampf um die Nachfolge von Ed Miliband als Vorsitzender der britischen Labour Party. Nach der dritten unabhängig voneinander durchgeführten Umfrage unter Labour-Mitgliedern bleibt Corbyn sechs Wochen vor der Wahl der mit Abstand beliebteste Kandidat - und würde in der entscheidenden Runde auch knapp die absolute Mehrheit erringen können. Auch bei den Unterstützungserklärungen der Labour-Kreisverbände liegt er uneinholbar vor allen anderen Kandidaten. Und sogar drei der vier großen britischen Gewerkschaften haben sich für Corbyn als neuen Labour-Chef ausgesprochen. Eine »Corbynmania« geht um.
Die allgemeine Beliebtheit des Sozialisten ist zum Einen ganz einfach auf seinen Charakter zurückzuführen, der so gar nicht dem Klischee des »verrückten«, »unwählbaren« Linksradikalen entspricht, das die Medien jetzt so gerne von ihm zeichnen wollen. Corbyn entspricht eher dem Typ »fitgebliebener Jung-Opa« - ein Mann der leisen Töne, mit Humor und Augenzwinkern. Im durchaus angesagten Londoner Stadtteil Islington wurde er im Mai schon zum achten Mal als Abgeordneter wiedergewählt, entgegen dem landesweiten Trend, der seiner Partei das schlimmste Ergebnis bei einer Unterhauswahl seit 1987 bescherte. Corbyn ist eine Institution in der Labour Party, auch wenn oder gerade weil er nicht zum Establishment der Partei gehört. Seine jahrelange Opposition gegen die Neoliberalisierung Labours unter Tony Blair und sein Widerspruch gegen den Irakkrieg haben den 66-Jährigen bekannt gemacht - er ist seit 2013 der Vorsitzende der Stop-the-War-Coalition, der Dachorganisation der Friedensbewegung in Großbritannien.
Ein zweiter Aspekt dürfte Corbyns kluge politische Positionierung sein: Corbyn glaubt nicht an das Mantra der Medien, dass Labour die Wahl verloren habe, weil man sich vom »Middle Ground« verabschiedet habe. Er setzt dieser These die Entwicklung in Schottland - die schottischen Nationalisten hatten mit einem klar keynesianischen Programm einen Erdrutschsieg errungen - und die inzwischen massive Wahlenthaltung vor allem von Labour-Anhängern in England (43 Prozent) als Ausgangspunkt dagegen. Nicht mehr Defizitreduzierung um jeden Preis, sondern zuerst der Aufbau einer »ausbalancierten Wirtschaft« und die Rücknahme von Eisenbahnen und Stromversorgung in den öffentlichen Sektor sollen Priorität haben - ein Programm für alle Wähler, so Corbyn.
Corbyns Erfolg hat noch einen weiteren Grund: die unfreiwillige Unterstützung durch die anderen Kandidaten. Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall wirken mit ihren wohl-, aber hohlklingenden Äußerungen abgestanden und aalglatt. Sie wollen sich auf Nichts festlegen. Dieser Ethos durchzieht seit Jahren das Labour-Establishment: Erst vergangene Woche wurde die Angst der Parteiführung, ja nicht zu radikal zu erscheinen, wieder einmal bis zur Peinlichkeit medienwirksam vorgeführt: Bei der Abstimmung des neuen Sozialgesetzes der Regierung, das einen Kahlschlag von bis zu 12 Milliarden Pfund in den nächsten Jahren im Sozialbereich vorsieht, stimmte nur Corbyn im Parlament dagegen, alle anderen Kandidaten für den Vorsitz enthielten sich der Stimme. Begründung: Es sei nun mal in der Bevölkerung populär, Sozialausgaben zu streichen.
Das sorgt bei den jungen Leuten in Corbyns Camp für Kopfschütteln. »Wenn man sagt, Labour wird sich nicht an die Finanzpläne der Konservativen halten, wenn wir gewählt werden, ist das dann schon Revolution?«, fragt etwa Seb, einer der jungen Kampagnenaktivisten gegenüber »nd«. Anscheinend treibt dies zahlreiche junge linke und Labour-Unterstützer zu einem Kandidaten, der selbst nach Ansicht des »Daily Telegraph« »geradeaus spricht und sagt, was er meint«. Diese Frage wird der Schlüssel sein, meint auch Corbyn selbst: »Das wichtigste Ergebnis meiner Kampagne ist bisher die Bereitschaft von tausenden jungen Leuten, die bis jetzt nichts mit Politik zu tun haben wollten, sich wieder im politischen Prozess zu engagieren.« Ob er Recht behält, wird sich am 12. September zeigen. Dann wird das Ergebnis der Abstimmung veröffentlicht.
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