Lost in Prokrastination
Kobane Libre: Fabian Köhler über die Gastfreundschaft von Menschen, die fast alles verloren haben. Teil 6 der Serie
Ich habe keine Ahnung, was die junge Frau in Soldatenuniform da sagt, die sich vorbei an traurigen Kindern und Trümmerbergen durch die Straßen von Kobane singt. Aber es klingt so schön, dass ich Amira nun schon zum dritten Mal bitte, mir das Video auf ihrem Handy zu zeigen. Nein, ich bin immer noch nicht in Kobane. Die Aussicht, ob es überhaupt noch etwas wird, mit »ungewiss« zu beschreiben, wäre etwas zu euphemistisch. Das türkische Tor an der Grenze ist und bleibt für Journalisten geschlossen. Und die kurdischen YPG-Kämpfer bitten jeden Tag wieder um Geduld.
Meine Suche nach Alternativbeschäftigungen bringt dabei nicht immer das hervor, was man unbedingt mit den Tätigkeiten eines Nahost-Korrespondenten assoziieren würde: Wie werde ich die Wanzen in meinem Bett los, ist so eine Frage, mit der sich anscheinend endlos die Zeit verschwenden lässt. Erst recht, wenn das eigene Türkisch so schlecht ist, dass der Apotheker die Bettwanzen mit Spritze in den Po und Heuschnupftabletten behandelt. Wo ich die nächste Nacht schlafe, in einer Stadt, in der eines der beiden Hotels geschlossen und das andere winzig und voll belegt ist, ist eine andere Sache . Ob die Tweets auf Twitter eigentlich jemanden interessieren? Wo meine Kreditkarte ist und ob es hier wohl ein Western-Union-Büro gibt.
Es war einmal ein unbedeutendes Kaff im Norden von Syriens und es wurde zur Vision eines demokratischen Nahen Ostens. nd-Autor Fabian Köhler sucht in dieser Serie nach Kobane. Zwischen Tonnen von Trümmern und unter Tonnen von Klischees.
Teil 1: Hinterm Bordstein geht die Sonne auf
Teil 2: Spielzeug erinnert an »den Tag«
Teil 3: Warmland
Teil 4: Brennt da Kobane?
Teil 5: »Ich habe Angst vor dem Meer. Große Angst«
Teil 6: Lost in Prokrastination
Teil 7: Mitten in der Linsensuppe
Zum Glück ist Kobane auch diesseits der Grenze so allgegenwärtig, dass sich nur schwer daran vorbei prokrastinieren lässt. Rund 20 Autominuten außerhalb der Stadt liegt das dritte Lager, das ich besuche. Oder das zumindest versuche. Falsche Genehmigung. Diskussion. Tee. Fahrt zurück nach Suruc. Suche nach zuständiger Behörde. Tee. Unterschrift auf kleinem weißen Zettel. Wieder Fahrt ins Lager. Wieder Tee. Rund 500 Menschen sollen hier leben, erzählt mir der Wachmann am Tor. Auf den ersten Blick kann ich mir das kaum vorstellen. Modell: irgendwas zwischen Mad Max und vom Sturm verwüsteter Campingplatz. Mitten im Nichts stehen einsam zwei umzäunte Schaukeln in der prallen Sonne. Siebenköpfige Familien sitzen in kleinen UNHCR-Zelten. Andere in dem, was wohl mal ein UNHCR-Zelt war. Dazwischen Schotter, Sand, Sonne. Sonst nichts.
Von einem wirklich beschissenen Ort würde ich schreiben, wären da nicht die rund 500 Menschen, die es schaffen, in diesem Sand eine Gastfreundschaft zu leben, wie man sie in Deutschland wohl nirgends erleben kann. Der über 60-jährige Mohammed, der auf die Frage, wo seine Familie ist, lächelnd in den Himmel zeigte, bevor er mir den Rest seiner Linsensuppe anbot. Tee? Komm in mein Zelt! Willst du bei uns zu Abend essen? Und dazwischen immer wieder der scheinbar unerschütterliche Optimismus von Leuten wie Newroz. »Wie, alles verloren?«, antwortet die dreifache Mutter überrascht auf meine vielleicht zu deutsche Frage. »Ich habe doch alles, was ich brauche hier, neben mir«, sagt sie und zeigt auf ihre drei Kinder.
Irgendwann am Abend fahre ich wieder zurück nach Suruc, setzte mich in ein Café und tippe die Geschichten in meinen Laptop über Menschen, die mit einem Topf Wasser und einer durchgelegenen Matratze mehr Gastfreundschaft zustande bringen als das, was woanders euphemistisch als »Willkommenskultur« gelabelt wird. Irgendwann fange ich dann doch wieder an zu prokrastinieren. Auf Twitter. Über #Lageso.
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