Die rechte Welle

Flüchtlinge im Berliner Bezirk Marzahn zwischen rechtsextremen Aufmärschen und Hilfsbereitschaft

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 7 Min.

Frau Lieske hat keine Zeit. Sie steht in der Tür zu ihrem schmalen Büro, 15 Quadratmeter, notdürftig eingerichtet, auch für so etwas hat Frau Lieske gerade keine Zeit. Sie muss Flüchtlinge unterbringen, 400 Menschen insgesamt, jeweils zwei auf 15 Quadratmetern. »ARD, n-tv, ich sage gerade alle Presseanfragen ab«, entschuldigt sich Yvonne Lieske. Sie hat vorübergehend die Heimleitung in dem neu eröffneten Containerdorf für Flüchtlinge im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf übernommen.

Vor einigen Tagen sind hier die ersten Menschen eingezogen, das Heim ist bereits fast ausgelastet. Behördengänge, Ärzte, Deutschkurse, Belegungsplan - Lieske und die vier Sozialarbeiter, die in dem Containerdorf tätig sind, haben allerhand zu tun. Und dann auch noch das Medieninteresse. Weil der Bezirk Marzahn-Hellersdorf in den vergangenen Monaten mit wöchentlichen Nazi-Aufmärschen gegen die geplante Flüchtlingsunterkunft und großen Gegenprotesten der Flüchtlingsunterstützer auf sich aufmerksam machte, stehen die Medienvertreter nun Schlange.

Die Presse will wissen, wie es ist im Bezirk, jetzt, nachdem die Flüchtlinge eingezogen sind. Jetzt, nachdem Marzahn erneut in den Schlagzeilen war: Nazis hätten seit dem Einzug die Flüchtlinge und Mitarbeiter bedroht und sich immer wieder vor der Flüchtlingsunterkunft getroffen. Die Heimbewohner wurden von den Rechten eingeschüchtert. Dazu will man in der Unterkunft am Blumberger Damm heute nichts sagen. »Die Stimmung hier drinnen ist sehr davon abhängig, was draußen vor dem Heim passiert«, verrät eine der Sozialarbeiterinnen dann aber doch noch.

Eine Frau kommt mit ihren zwei Kindern gerade vom Einkauf wieder, sie trägt eine Tasche mit Lebensmittel an der einen, die beiden Mädchen an der anderen Hand. Der Spielplatz vor der Unterkunft wird gerade noch errichtet, ein Zaun erlaubt das Spielen nicht, nur eine Schaukel ist freigegeben. Im Eingang der Unterkunft sitzen zwei Jungs, vielleicht vier, fünf Jahre alt, und spielen mit einem bunten Kreisel auf dem Boden. Spielen vorsichtig und leise, drehen mit fragenden Gesichtern den Kreisel in schüchternen Runden. So, als seien sie nicht sicher, was mit ihnen hier gerade geschieht und wo sie gelandet sind. Vor dem Haus: zwei Polizeiwannen, acht Mann. Es ist Mittagszeit, ein Polizist beißt gerade in eine Stulle, die anderen sieben lehnen die Köpfe an die Sitze. Wartend. »Wir wissen gar nicht, was hier los ist, wir sind nur ganz kleine Lichter«, sagt einer der Polizisten. Sie säßen ihre Schicht hier ab, nein, Aufmärsche habe es in den vergangenen Tagen nicht gegeben, insgesamt sei es schon ein bisschen ruhiger geworden, ja das könne man so sagen. Mehr aber nicht, so der Polizist.

Doch ruhiger scheint es in den vergangenen Tagen keinesfalls geworden zu sein vor dem Containerdorf für Geflüchtete in Marzahn: Auf dem Blog »berliner-register.de« dokumentieren Studierende der im nahen Stadtteil Hellersdorf gelegenen Alice-Salomon-Hochschule rechtsextreme und diskriminierende Vorfälle in ganz Berlin. Auch für Marzahn-Hellersdorf gibt es eine Chronik:

- 17. Juli: NPD-Kundgebung vor dem Heim

- 18. Juli: Nazi-Picknick vor dem Heim

- 18. Juli: Angriff auf zwei Bewohner des Heims

- 20. Juli: Demonstration gegen die Unterkunft

- 22. Juli: Rassistische Kundgebung vor dem Asylbewerberheim

- 25. Juli: Angriff auf Geflüchteten vor dem Heim

- 26. Juli: Versuchter Angriff auf Geflüchteten

- 27. Juli: Neonazis stellen Holzkreuze vor der Unterkunft auf

- 30. Juli: Neonazis blockieren den Eingang der Flüchtlingsunterkunft.

- 6. August: 100 Aufkleber mit der Parole »Refugees not welcome« werden in ganz Marzahn geklebt

Für 2015 hat die Hochschule bereits 109 Vorfälle in Marzahn-Hellersdorf dokumentiert, im gesamten Vorjahr waren es 84 Vorfälle. Die Nazis in Marzahn sind fleißig. Die dokumentierten Übergriffe, Einschüchterungsversuche und Bedrohungen sind eine Chronik des Hasses. »Es geht da um einen kleinen Kern von Rechtsextremen, bei dem wir bedauerlicherweise wohl keine Verhaltensänderung erreichen können«, erklärte Stefan Komoß (SPD), Bezirksbürgermeister in Marzahn-Hellersdorf, kürzlich in der »taz«. Von Übergriffen auf Flüchtlinge wisse er jedoch nichts, so Komoß an dem Tag, an dem Neonazis in aller Ruhe schwarze Holzkreuze auf einer Wiese vor der Unterkunft aufbauten.

Sicher, die Neonazi-Präsenz im Bezirk hat nachgelassen. Waren es im November noch bis zu 1000 Teilnehmer, die an den »Nein zum Heim«-Veranstaltungen teilnahmen, traf sich in den letzten Wochen nur noch ein harter Kern von 50 bis 100 Personen. An den vergangenen beiden Montagen fiel der wöchentliche Aufmarsch sogar aus. Zu glauben aber, dass die Nazis müde geworden seien, ist ein Trugschluss, der sich mit einem erneuten Blick in die Chronik der Registerstelle schnell aufklärt. Der Hass hat sich nur verlagert, ist direkter geworden, wie die Angriffe auf Flüchtlinge dokumentieren. Was ist das für ein Bezirk, in dem Menschen einerseits ihren Hass so offen und beharrlich wie sonst fast nirgends auf die Straße tragen, aber auch ein großes Unterstützernetzwerk für Flüchtlinge existiert, das von rund 100 Ehrenamtlichen getragen wird?

In Marzahn-Hellersdorf leben rund eine Viertel Million Menschen. Laut dem Berliner Sozialstrukturatlas überwiegend in einfachen Wohnlagen, mit hoher Kinderarmut, Hartz-IV-Bezug, etwa 60 Prozent der Einwohner Marzahn-Hellersdorf seien demnach davon betroffen. Im berlinweiten Vergleich belegt Marzahn auf dem Sozialindex den neunten von zwölf Plätzen. In Marzahn-Mitte, dort, wo nun auch das Containerdorf steht, leben etwa 35 000 Menschen. Marzahn-Mitte ist vor allem Platte, mancherorts bunt gestrichen, die Balkone bepflanzt, jetzt im Sommer bunt beschirmt. Die Marzahner Promenade, sie gilt als das Zentrums des Ortsteils, ist leer. Nur wenige Anwohner sind an diesem Montagmorgen unterwegs, erst kürzlich schlossen hier drei Straßen weiter zwei Supermärkte. Die Arztpraxen sind überfüllt, den Alexanderplatz erreicht man zwar in 20 Minuten mit der Tram, die Infrastruktur im Bezirk ist dennoch dürftig. Cafés, Kneipen, Läden sind rar, es scheint, als treffe man sich an anderen Orten in Marzahn. Etwa im Stadtteilzentrum.

Nah an der Promenade gelegen, bietet der Begegnungstreff Freizeitaktivitäten, Selbsthilfegruppen und nun auch die Koordination der Flüchtlingshilfe an. Überrascht von der großen Hilfsbereitschaft sei sie gewesen, erzählt Renate Schilling, die Leiterin des Stadtteilzentrums. Fast täglich kommen noch E-Mails und Anrufe, wie man die Flüchtlinge unterstützen könne. Schilling lebt selbst in Marzahn. Die Begrünung des Bezirks, die großzügige Planung, auch die Bausubstanz der Plattenbauten sei nicht die schlechteste. Sicher, so dicht wie in Mitte seien die Gaststätten und Kneipen hier nicht gesät, Zerstreuung und gutes Essen könne man aber auch in Marzahn finden, erzählt Schilling.

Trotz aller Widrigkeiten - es könnte doch schön sein in Marzahn. Wären da nicht die Nazis. Seit 2013 bekannt wurde, dass das alte Schulhaus in der Carola-Neher-Straße zum Flüchtlingsheim umfunktioniert wird, gewann der rechte Hass an Zulauf. Es schien, als reaktivierten sich alte Kader, getragen von einer selten erlebten Welle des Rechtsextremismus. Von einer Welle, die von Hellersdorf-Marzahn in die Köpfe der Menschen schwappen könne, sprachen die Medien. Das Heim in Marzahn-Hellersdorf ist das dritte von berlinweit sechs entstehenden Containerdörfern. 2200 Menschen sollen in den Unterkünften Platz finden. Auch an anderen Standorten gab es Hassaufmärsche, Proteste und Übergriffe. Nirgends sonst aber wurden die Wut und der Hass so stringent verbreitet wie in Marzahn. Die Flüchtlingsthematik, sie war den Nazis gerade recht gekommen. Selbst Menschen mit weniger ausgeprägtem rechten Gedankengut schienen sich durch eine vermeintliche Logik der Ungerechtigkeit, mutmaßlich gegründet auf eigener Unzufriedenheit, gepaart mit der Angst vor Neuem, ködern zu lassen. Selbst wenig haben, anderen noch weniger gönnen, vor allem nicht in der direkten Nachbarschaft, nicht in ihrem Marzahn. Bei der Bundestagswahl 2013 wählten dann knapp vier Prozent in Marzahn-Hellersdorf die NPD, in dem Wahllokal in unmittelbarer Nähe zur Carola-Neher-Straße waren es sogar 10,2 Prozent.

»Der Bezirk muss dringend die Initiative ergreifen. Wir brauchen mehr Sachverstand gegen rechtsextreme Strukturen«, fordert Björn Tielebein. Er ist Fraktionsvorsitzender der LINKEN in Marzahn-Hellersdorf. Der Bürgermeister müsse das Problem rechter Gruppierungen im Bezirk endlich ernst nehmen um dagegen arbeiten zu können. An dieser Forderung dürfte jeder Marzahner Interesse haben. Denn wem nutzen die schönen großzügig gestalteten Grünflächen, die bunten Plattenbauten, die vielen Begegnungsstätten, wenn sie von einem braunen Mob belagert werden, der nichts als Hass und Zerstörung sät, dort wo sonst Blumen wachsen könnten.

Vor der Unterkunft am Blumberger Damm ist es zuletzt still geblieben. Es ist eine kalte Stille, eine trügerische. Denn der Hass schwelt weiter unter den Nazis in Marzahn.

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