Die Krise - was sonst

Angst vor der Rückkehr der Drachme und einer schlechten Ernte. Ein Besuch in der griechischen Kleinstadt Zevgolatio

  • Thembi Wolfram, Zevgolatio
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Entscheidungen über ihre Zukunft werden im weit entfernten Athen getroffen. Dennoch ist die griechische Krise auch beim Kartenspielen im Café auf dem Lande allgegenwärtig.

Wenn der Zug an der Stadtgrenze von Athen aus dem Untergrund auftaucht, passiert er die Wellblechhütten von Acharnes, hauptsächlich von Romafamilien bewohnt. Dann geht es vorbei an spärlich belegten Liegen an schmutzigen Kiesstränden. Nach der dreispurigen Autobahn, kurz vor Megara, gleiten die Olivenhaine und Silos vorbei. Halt in Kineta, einem Ort, der kurz vor der Krise noch einen Boom durch zuziehende, wohlhabende Rentner erfahren hat. Es geht weiter, neben den Öltankern auf dem Weg nach Korinth und den brennenden Schloten der Raffinerie »Motor Oil Hellas«. Der Sommer hat die Flussbetten ausgetrocknet, die Berge sind trotzdem sattgrün. Manche Orte bestehen nur aus kleinen Villen mit Pool auf dem Dach und Bauruinen mit Graffiti. An wenigen steht ein vergilbtes »POLITAI« - zu verkaufen.

So kommt man nach fast genau 82 Kilometern nach Zevgolatio, laut Zensus 2011 ein exakt 4697-Seelen-Ort. Ob man allerdings diesen Weg auf sich nehmen sollte, da ist Taxifahrer Vassilis nicht so sicher. »Hör mal, wenn du einen schönen Tag verbringen willst, dich erholen, fahr lieber einen Ort weiter, nach Vrachaki«, sagt er. Das sei nur drei, vier Kilometer entfernt und habe Strand. Zevgolatio war einmal ein Teil von Venetien, florierender Umschlagplatz für allerlei aus dem griechischen Umland. Jetzt könnte man den Ort verschlafen nennen, oder vielleicht doch besser entschlafen.

Die Gegend ist fruchtbar, die Luft nicht zu heiß und nicht zu kalt. Die Bewohner des Dorfes sind Bauern, leben von Trauben, Pfirsichen, Oliven, Äpfeln und Birnen. Der Dorfplatz könnte sofort als Filmkulisse für den Mittleren Westen der USA dienen. Auf den staubigen Straße fahren zerbeulte Pickups. Am Freitagmorgen sind fast nur alte Männer unterwegs.

»Café, Grill und mehr« bietet ein Laden an. Eine Portion Ferkel vom Spieß kostet 11 Euro, ein Kaffee Frappé nur einen. Der Marktplatz von Zevgolatio zählt einen Bäcker, eine Apotheke und stolze sieben Cafés. In jedem sitzen weißhaarige Rentner mit Sonnenbrillen, nippen an ihrem Freddo Espresso, spielen eine Partie Backgammon und lesen Zeitung. Gelegentlich machen sie Späßchen über die Passanten. Die meisten Tische stehen vor dem »Café Agora« auf dem Bürgersteig. Zum Bier gibt es einen kleinen Metaxa und eine Schüssel Kartoffelchips, zum Raki hausgemachtes Brot und Oliven-Tomaten-Salat. Auf vier Pokertischen liegen schon die Karten und Zählböcke für den Abend bereit. Gegenüber im Haushaltsladen gibt es Landwirtschaftsbedarf zu kaufen: Mistgabeln, Schläuche, Düngemittelsprenkler. Ab und zu hält ein staubiger Pkw vor dem Laden, ein Bauer in Gummilatzhosen grüßt kurz in Richtung Agora, macht seine Besorgung und braust davon.

Drei ältere Männer sitzen gleich neben dem Eingang der Agora, im kühlen Zug der Klimaanlage. Alle tragen pastellfarbene Hemden, Lederslipper, haben die Hände über dem Bäuchlein gefaltet, auf dem Tisch nur eine kleine Limonade stehen. Hier geht das wohl noch, während manche Cafés in Athen einen Mindestkonsum einführen mussten, um ihren Umsatz vor den Altmännerrunden zu retten. Einer der drei, auf der Nase eine eckige Lehrerbrille, diskutiert gerade über die Krise - was sonst. »Wir sind 2009 pleite gegangen und haben es nicht gemerkt. Dass man uns jetzt nicht mehr vertraut und Bedingungen an die Hilfszahlungen knüpft, darüber müssen wir uns doch nicht wundern!«

In Athen diskutiert die griechische Regierung mit den Gläubigerinstitutionen über das Memorandum, das die Eckpfeiler griechischen Reformpolitik in den nächsten Jahren vorschreibt - und die Voraussetzung für ein drittes Kreditprogramm ist. Gedanken darüber machen sich die Menschen auch hier.

»Es gibt einfach keinen Ausweg«, sagt sein Nebenmann. »Der nächste Schritt ist ganz sicher die Drachme und dann helfe uns Gott. Die Frage ist nur noch, wann sie kommt.« Und wenn es Neuwahlen gibt, was wählen sie dann? Schulterzucken. Dann erzählt der Brillenträger von seiner Nichte. Die habe eine Hypothek von 200 000 Euro auf ihr Haus aufgenommen. Gar kein Problem war das. Ihr Mann hatte schließlich einen sicheren Job bei Vodafone, da haben die Banken ihr das Geld hinterhergeschmissen. »Nimm, nimm, nimm! hieß es«, sagt der Mann. Dann drängte der italienische Kommunikationsriese WIND auf den Markt. »Jetzt ist sie arm.« Betretenes Schweigen, Kopfschütteln. Dann sagt einer: »Griechenland ist erst der Anfang. Als nächstes sind bestimmt die Italiener dran!«

An der Wand im Agora erinnert eine Collage vergilbter Schwarz-Weiß-Fotografien an bessere Zeiten, als die Stadt noch voller junger Menschen war. In den 1950er Jahren stehen auf den staubigen Straßen Jungs mit Schlips und Sakko, junge Frauen mit Highheels. Zehn Männer sitzen nebeneinander am Osterfeuer und wenden ihre Lammspieße. Ein Bild zeigt eine Schülerparade, kleine Jungen in Uniform und Gleichschritt. Eine junge Frau, rittlings auf einem Esel, hält lachend zwei Kaffeebecher in die Kamera, neben ihr ein schlecht gelauntes Kleinkind. »Das ist mein Opa«, sagt ein kleiner blonder Junge und zeigt auf das verwackelte Bild eines durchtrainierten Teenagers und eines älteren Mannes auf Fahrrädern. Der Kleine ist der Sohn der Besitzerin des Cafés.

An zwei Sprachschulen vorbei - an einer unterrichtet Marina Bakoli Deutsch -, erreicht man das eine Ende von Zevgolatio. Bauernhäuser stehen dicht an dicht mit den Orangenplantagen. Viele Fassaden sind frisch geweißt, mancher baut einen Balkon an, auffällig viele brandneue Geländewagen parken davor. Im urbanen Griechenland halten sich hartnäckige Gerüchte gegen den Bauernstand: die hätten Agrarsubventionen kassiert, in die eigenen Taschen gesteckt und würden sich nun am lautesten über die Sparprogramme beschweren. Am gegenüberliegenden Dorfende fahren Romafamilien durch das Dorf. Soziale Ungleichheit in Krisensituationen schürt auch in Zevgolatio rassistische Ressentiments.

Große Aufregung hatte es Anfang Juli gegeben, als ein älteres Ehepaar in seiner Wohnung überfallen wurde. »Unter Einsatz körperlicher Gewalt wurden 250 Euro und Schmuck erbeutet«, meldete die Lokalzeitung. »Wer in diesen Zeiten Arme, Schwache und Alte ausraubt, sollte per Standgericht exekutiert werden«, hat jemand im Internet daruntergeschrieben. Ein anderer: »Jeder, der die Gegend um Zevgolatio ein bisschen kennt, weiß, dass dort eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe ihr Unwesen treibt.«

Im »Paranga« (griechisch für Baracke) treffen sich viele der Bauern täglich zur Mittagspause. Noch ist nur ein einziger Tisch besetzt. Die Sonne brennt, trotzdem sind die drei Landwirte dort schon beim dritten Bier. Dazu gibt es frittierte Fischchen, »Garros« - aufs Haus. Einer der Bauern ist schließlich der Onkel des Wirts. »Wenn ich nicht verheiratet wäre, wäre ich schon mit einer anderen weg«, sagt der jüngste der Drei. Die anderen beiden lachen und necken ihn eine Weile. Dann wird das Gespräch ernst. Es ist Traubenernte, die Drei wollen Sultaninen produzieren. Dimitris - »Mitso« - ist schlecht gelaunt. Er wollte sich absichern, falls die Agrarsubventionen bald wegfallen, und hat daher in diesem Jahr Setzlinge von Obstbäumen aus Makedonien gekauft. »Aber die Dinger waren dünn wie Zahnstocher, ein paar sind jetzt schon eingegangen.«

Am Nebentisch steht sein Kollege Spiros auf, um aufs Feld zurückzugehen. »Ist doch viel zu heiß zum Arbeiten«, ruft ihm einer zu. Aber Spiros winkt ab. Er wolle nur nach dem Rechten sehen. Die eigentliche Feldarbeit wird hier oft von albanischen Saisonkräften erledigt. Die Wirtin wischt die Tische hinter den letzten Gästen ab und gießt sich einen Kaffee ein. Im über 80 Kilometer entfernten Athen melden die Medien wenig später den Durchbruch: Der Entwurf für ein neues Memorandum steht. Und die Menschen in Zevgolatio stehen bald wieder vor einer Wahl.

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