Drei Frauen aus dem Osten reden über den Kapitalismus

Grit Lemke, Gesine Lötzsch und Stefanie Hürtgen tauschten sich über Ostdeutschland, Neoliberalismus und soziale Verwerfungen aus

  • Roland Zschächner
  • Lesedauer: 4 Min.
Drei Frauen mit DDR-Vergangenheit: Grit Lemke, Gesine Lötzsch und Stefanie Hürtgen
Drei Frauen mit DDR-Vergangenheit: Grit Lemke, Gesine Lötzsch und Stefanie Hürtgen

Das war eine Rarität: Gleich drei Frauen aus der DDR sprachen am Donnerstagabend in Lichtenberg auf einem Podium miteinander über Politik, Kultur und den kapitalistischen Alltagsirrsinn mit Blick auf Ostdeutschland. Aus Salzburg zugeschaltet war die Politikwissenschaftlerin Stefanie Hürtgen, vor Ort in der »Kiezspinne« saßen die Autorin und Regisseurin Grit Lemke sowie die Linke-Politikerin Gesine Lötzsch.

Das Thema des Abends lautete: »Ist der Westen der neue Osten?« Eingeladen hatte die Helle Panke, der Berliner Ableger der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Teilnehmerinnen tappten nicht in die mit dem Titel der Veranstaltung gelegte Falle. Sie hielten sich bedeckt zur Situation in Westdeutschland und vermieden windschiefe Vergleiche oder Ratschläge über die innerdeutsche Phantomgrenze hinweg.

Kontroversen gab es an anderer Stelle. Zum Beispiel bei der Frage nach einer Ostidentität. Grit Lemke, die 2021 mit ihrem Buch »Kinder von Hoy« einen Erfolg feierte, betonte, dass die derzeitige Ostidentität nicht nur aus der Abgrenzung zum Westen resultiere. Vielmehr gehe es darum, was nach 1989 im Osten passiert sei. Von den Zerstörungen »der Dampfwalze des Kapitalismus« sei jede Familie betroffen gewesen. Strukturen seien nicht nur gewandelt, sondern zerstört worden – »ein Strukturbruch«. »Das macht etwas mit der Identität«, so Lemke.

Die aus dem Prenzlauer Berg stammende und inzwischen in Österreich als Professorin tätige Stefanie Hürtgen hält wenig von dem Konzept der Identität. Sie sprach lieber davon, dass das »ostdeutsche Wir ein gebrochenes ist«. Sie ordnete dies in eine neoliberale Entwicklung ein, durch die Ostdeutschland – wie auch andere Regionen – an den Rand gedrängt werde. »Peripherisierung«, so Hürtgen, zeige sich auch in einer »sozialräumlichen Ungleichheit«.

Das, was sie als Ostidentität wahrnehme, sei ein »Wir wollen zum Zentrum gehören«. Wer jedoch vorankommen wolle, müsse Identitäten überwinden, so Hürtgen. Auch das Gerede vom »Bürger zweiter Klasse« – an diesem Abend äußerte sich niemand in dieser Richtung – sei letztlich der Wunsch, Teil der »nationalen Leistungsgesellschaft« zu sein.

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Vorankommen dürfte indes für diejenigen in der Lausitz, die auf Bus und Bahn angewiesen sind, schwer zu machen sein. Denn öffentliche Verkehrsmittel seien in Regionen wie Hoyerswerda kaum vorhanden. Die Stadt ist buchstäblich abgehängt. »Wie soll man sich da fühlen?«, fragte Grit Lemke. Über die zerstörte Infrastruktur wurde an diesem Abend noch häufiger gesprochen, denn sie steht sinnbildlich für das ungleiche Verhältnis zwischen Ost und West.

Dieses zu thematisieren, dafür stand lange die PDS. Die Partei repräsentierte eine Ostidentität, die viele Menschen in der ehemaligen DDR ansprach. Gesine Lötzsch betonte jedoch, dass »die Ossis« erst nach 1989 in der erweiterten Bundesrepublik eine eigene Identität entwickelt hätten. Doch sei die PDS »für das ganze Land da gewesen«, so die seit 2002 aus Lichtenberg immer wieder direkt in den Bundestag gewählte Politikerin.

Die sozialistische, auf Reformen ausgerichtete Partei griff lange die Themen auf, die viele Ostdeutsche bewegten: die Zerschlagung der Industrie, die Rentenfrage, die Übernahme von Bildungseinrichtungen durch westdeutsches Personal, der Arbeitskampf der Kali-Kumpel in Bischofferode und der Wegzug von fünf Millionen Menschen aus Ostdeutschland. Doch mit der Ostpartei war es irgendwann vorbei, nachdem sich die PDS 2007 mit der WASG zur Partei Die Linke vereinigt hatte. Das Feld wird nun von anderen bestellt – der rechtsnationalistischen, westdeutschen AfD. Dass sie die Abkehr vom Osten für einen Fehler hält, der nicht einfach zu beheben ist, machte Lötzsch deutlich.

Zugleich verwies sie auf einen wichtigen Aspekt der aktuellen Misere: »Die entscheidende Grundlage ist die Ökonomie.« Darüber herrschte Einigkeit unter den Frauen. Viele Fragen blieben aber offen. So nahm Hürtgen quasi die Vogelperspektive ein, um die Strukturen des neoliberalen Kapitalismus als bestimmendes Merkmal in den Vordergrund zu stellen. Zugleich dozierte sie, was alles nicht richtig sei. Dabei streifte sie viele Themen, erklärte aber wenig.

Beispielsweise blieb unklar, wer die Akteure in einer durch Neoliberalismus und transnationales Kapital fragmentierten Region sind, die nun eine transnationale Perspektive einnehmen sollen. Und was bedeutet es, wenn Hürtgen die Peripherien als »Avantgarde« bezeichnet?

Die Sozialwissenschaftlerin kehrte schließlich zum Osten zurück und sprach von einem »Erfahrungsvorsprung in der Wende«, zu dem auch »der Mut in der unmittelbaren Wendezeit« gehöre. Sie meinte es nicht so; doch an ihren eigenen Ausführungen gemessen lässt sich fragen: Bieten diese Erfahrungen nicht auch eine offene Flanke für AfD-Parolen wie »Vollende die Wende«?

Daran ließe sich die Frage anknüpfen, was die besondere Situation im Osten mit den dortigen Erfolgen der AfD zu tun hat. Oder ob man von Kolonialismus sprechen kann. Solche und viele andere Fragen blieben an diesem verschneiten Abend offen. Zumal eine Diskussion nicht so recht zustande kam. Denn zum einen wollte der Moderator mehr in seine Fragen stecken, als eine Antwort herzugeben vermag, zum anderen war Hürtgen nur virtuell dabei. Deutlich wurde aber, dass es in Bezug auf Ostdeutschland noch vieles zu klären gibt – auch ohne den Westen.

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