Werbung

Wahlprogramme – wer liest die überhaupt?

Zu lang, zu unverständlich oder eh alles nur gelogen? Über die Bedeutung des zentralen Selbstdarstellungstextes von Parteien im Wahlkampf

Bundestagswahl – Wahlprogramme – wer liest die überhaupt?

SPD, AfD und BSW beschließen an diesem Wochenende ihre Wahlprogramme für die Bundestagswahl. Die anderen Parteien innerhalb der nächsten Wochen. Sind sie mehr als leere Versprechen? Vier verbreitete (Vor-)Urteile:

Mehr als 60 Seiten Wahlprogramm – da schaut doch eh keiner rein

Stimmt. Für die Langfassung. Aber die hat im Kern ohnehin eine andere Funktion. »Die Langfassung hat eher eine Wirkung nach innen und dient schon über den Erstellungsprozesses der Selbstverständigung der Parteimitglieder«, erklärt Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim in Stuttgart, der seit Jahren die Verständlichkeit von Wahlprogrammen untersucht. Es gibt aber nicht nur das Wahlprogramm, wie es auf den Parteitagen verabschiedet wird, sondern auch Kurzfassungen davon. Und die werden durchaus gelesen, weiß der Kommunikationswissenschaftler. Von den Parteimitgliedern, wie auch von Wählerinnen und Wählern, an die sich die knappere Fassung vor allem richtet.

Wahlprogramme haben aber noch eine dritte Funktion: Sie bilden die Grundlage für andere Werbematerialien, für Statements und Interviews von Kandidat*innen wie auch für Gespräche an Wahlkampfständen. Auf ihnen basieren Wahlprüfsteine von Verbänden oder der viel genutzte Wahl-O-Mat und natürlich sind sie Futter für Berichterstattung in den Medien. »Daher kennt ein Großteil der Wähler*innen die Programmatik der Parteien, auch ohne die Programme selbst vollständig gelesen haben zu müssen«, erklärt Felicia Riethmüller vom Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen, das im Manifesto-Projekt zusammen mit dem Wissenschaftszentrum Berlin weltweit Wahlprogramme analysiert. »Wahlprogramme haben nachweisbar einen direkten, aber auch einen indirekten Einfluss darauf, wie Wähler*innen die Partei und ihre Position wahrnehmen.«

Die Inhalte im Wahlprogramm sind doch eh alle gelogen

Sicher, Wahlprogramme sind nicht die Orte, in denen offen über Schwachstellen der eigenen Vorschläge oder absehbare Probleme bei der Umsetzung gesprochen wird. »Freundlich formuliert, stellen Wahlprogramme Themen und Positionen in den Vordergrund, die in der Bevölkerung mehrheitlich gut ankommen«, so Brettschneider.

Interessant ist deshalb auch immer, was gerade nicht drinsteht. Etwa Vorschläge zur Finanzierung der Wahlversprechen. Das mediale Echo auf den aktuellen Wahlprogrammentwurf der CDU fiel mit Blick darauf nicht gerade günstig aus. Noch weniger wird in Wahlprogrammen über kapitalistische Logiken gesprochen, die das politische System maßgeblich bestimmen. Der Soziologe Colin Crouch kritisierte Wahlkämpfe schon vor 20 Jahren als inszenierte Showveranstaltung zur Beruhigung der Massen. Währenddessen werde die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht. In diesem Sinne sind Programme eher ein Idealbild der politischen Visionen, aber kaum transparent im Hinblick auf reale Gefahren und Widersprüche der demokratischen Prozesse.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Ehrlichkeit wird allerdings auch nicht wirklich belohnt. Als die Grünen 1998 beschlossen, den Spritpreis innerhalb von zehn Jahren auf 5 DM anheben zu wollen, lösten sie damit einen Shitstorm aus. Was Brettschneider daran so bezeichnend fand: »Abgesehen von Gegenargumenten war die häufigste Reaktion: Wie doof kann man eigentlich sein, so etwas zu beschließen? Damit verschreckt man doch alle Wählerinnen und Wähler.« Er versteht das als Aufforderung, mit unbequemen Wahrheiten doch lieber hinterm Berg zu halten.

Diese Geschichte zeigt aber auch, was einzelne Beschlüsse in Wahlprogrammen für eine Bedeutung bekommen können. Die Göttinger Wissenschaftlerin Riethmüller hält Wahlprogramme denn auch insgesamt für aussagekräftig. Aus der Gesamtschau ergebe sich durchaus eine Einordnung »in einer allgemeinen Links-Rechts bzw. einer Progressiv-Konservativ-Dimension«. Daran lässt sich dann auch festmachen, ob eine Partei »nach rechts oder nach links gerückt« ist.

Niemand wählt nach dem Wahlprogramm

Studien konnten zeigen, dass die Programmatik von Parteien durchaus einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat. Dies sei weniger für Menschen mit langfristig gewachsener Parteibindung der Fall, erläutert Riethmüller, als für Menschen, die in ihrer Wahlentscheidung noch unentschlossen sind. »Davon gibt es immer mehr, weshalb Wahlprogramme nicht an Wichtigkeit verlieren, im Gegenteil.«

Kommunikationswissenschaftler Brettschneider bestätigt: »Für die wenigsten Menschen ist Politik der Dreh- und Angelpunkt des eigenen Lebens. Ihre Aufmerksamkeit ist erst vor der Wahl besonders hoch.«

Nach der Wahl erinnert sich doch sowieso keiner mehr dran

Nun ja. Geht es in Koalitionsverhandlungen, sind die Wahlprogramme schon erst mal noch wichtig. Am Verhandlungstisch können sich die Parteispitzen darauf berufen und stärken damit ihre Position, so Brettschneider. Auf der anderen Seite beschränken Wahlprogramme ihre Beinfreiheit, denn sie müssen ihrer Partei Abweichungen von der beschlossenen Linie begründen.

Das WZB untersucht regelmäßig die Bedeutung von Wahlprogrammen nach der Wahl. Mit dem Ergebnis, dass sich die Parteien stärker daran orientieren, als allgemein angenommen wird. »Bei der Umsetzung von Wahlversprechen sieht es empirisch besser aus, als in der öffentlichen Wahrnehmung oft vermutet«, erklärt Riethmüller. »Der prozentual geringere Anteil an nicht eingehaltenen Wahlversprechen steht jedoch oft stärker im Fokus und bleibt Wähler*innen stärker im Gedächtnis.«

Dennoch bleibt es ein Problem, wenn Parteien immer wieder mit den gleichen Versprechen in den Wahlkampf ziehen, die sie nicht halten. Wähler*innen merken das; die Entfremdung zu institutionalisierter Politik wächst. Wer Politik kontinuierlich verfolgt, macht seine Entscheidung daher sicher nicht vor allem von der Wahlwerbung abhängig.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.