Ein unerschütterlicher Optimist
Fragen an J. K. anlässlich einer Ehrung des marxistischen Wissenschaftlers Jürgen Kuczynski in Weißensee
Nun also ist es endlich soweit - nach acht Jahren intensiver Bemühungen von Freunden, ehemaligen Arbeitskollegen und Tausenden Bewunderern von Jürgen Kuczynski wird ein Park in Berlin-Weißensee nach dem Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften und äußerst produktiven Publizisten benannt. Am morgigen Mittwoch wird an der Grünfläche am Kreuzpfuhl zudem ein vom Künstler Harald Kretzschmar gestaltetes Bronzerelief enthüllt. Aus diesem Anlass bemühte sich »nd« um Antworten von J.K.
Herr Professor, die Ehrung unweit Ihrer einstigen Wohnstätte dürfte Sie freuen, auch wenn es kein lebensgroßes Denkmal und kein Museum ist, wie sie Ihrem Freund und ebenfalls zeitweiligen Weißenseer Bert Brecht in Berlin zuteil wurden.
Ach ja, der Brecht. Er hatte die besseren Beziehungen nach dem Westen für Zigarren, und ich die besseren Detektivromane. Und so kam er zweimal die Woche, klingelte, hielt in der einen Hand die Zigarre und in der anderen den Detektivroman, den er zurückbrachte. Ich glaube, manchmal sagten wir nicht einmal »Guten Tag«, sondern tauschten nur schweigend Zigarre und Roman. Er war übrigens der einzige, dem ich Detektivromane geborgt habe, weil ich wusste, dass er sie in wenigen Tagen zurückbringen würde, um neue zu bekommen.
Die Leidenschaft für den Tabak teilten Sie auch mit dem sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg.
Richtig - das Pfeiferauchen. Ehrenburg war Chefberater des Pfeifentrusts der Sowjetunion, und er schenkte mir eine der schönsten Pfeifen, die dieser Trust herstellte.
Beneidenswert: Sie waren mit vielen großen Gestalten des 20. Jahrhunderts bekannt, darunter Albert Einstein und Egon Erwin Kisch.
Egonek war - neben mir - der begabteste Schüttelreimer in der Partei. Er hatte eine große Freude an mir, weil meine Familie eine alte Schüttelreimfamilie war.
Wie wär’s mit einer Kostprobe?
Von Kisch: »Erschrocken sieht die keusche Magd/ wie da am Zaun der Moische kackt.«
Das ist aber ziemlich deftig, Herr Kuczynski. Und was reimten Sie? Meine Schüttelreime waren viel komplizierter, nämlich mit Worten, die es gar nicht gab, wo aber jeder glaubte, er müsse das Wort kennen, zum Beispiel: »Und das süße Wickelkind,/ machte mit dem Kickel Wind.« Keiner hat mich gefragt, was ein Kickel ist, weil jeder sich einbildete, er wüsste das.
Apropos Einbildung: Sie haben dereinst im Zentralorgan der SED, im »Neuen Deutschland«, mit stoischer Zuversicht den Untergang des Kapitalismus prophezeit. Nun ist aber nicht dieser, sondern der Sozialismus untergegangen?
Zunächst einmal: Das »Neue Deutschland« traute sich in den letzten 20 Jahren der DDR nie, etwas von mir zu drucken, weil man immer Angst hatte, es könnte irgendwo versteckt eine Kritik sein. Deshalb schickte ich meine Artikel für das ND vorher an Erich Honecker, und binnen 24 Stunden waren die Sachen mit einem o.k. in der Redaktion. Er war der beste und nützlichste Briefträger, den ich hatte.
Ich erinnere mich, dass Sie nach der »Wende« Ihre wöchentlichen Börsenkommentare stets persönlich in unsere Redaktion brachten. Ihre Artikel schmückten das Blatt. Aber trafen Sie auch den Nerv der Leser in den dramatischen neunziger Jahren?
Natürlich haben die meisten Menschen andere Sorgen als den Verlauf der Aktienkurse. Aber diese sind ein Anzeiger der Stimmung in den Kreisen des Kapitals.
Die ein Linker kennen sollte und die derzeit, jedenfalls in deutschen Kapitalkreisen, prächtig ist. Der Kapitalismus hat entgegen ihrer Deutung von Aktienkursen, Zinssätzen und Warenkörben triumphiert.
Halt, jetzt komme ich zu zweitens: Eines der Hauptargumente gegen die Lehren von Marx ist, dass dieser von dem Gesetz der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse gesprochen hat, und kein vernünftiger Mensch leugnen kann, dass sich der Lebensstandard - Essen, Kleiden, Wohnen, Haushaltstechnik, sei es in der Küche oder im Wohnzimmer - ganz außerordentlich gehoben hat. Aber Marx hat nie daran gedacht, absolute Verelendung und Lebensstandard zu identifizieren und die Verelendung nur darin zu sehen, dass sich der Lebensstandard ständig verschlechtert. Im Gegenteil ...
Sorry, Herr Kuczynski, Sie weichen meiner Frage aus.
Nein, eben nicht! Da sind nicht nur die Arbeitslosen, die Obdachlosen, die vielen ungenügend versorgten Kranken, Behinderten und auch Rentner, die nicht jeden Tag satt werden. Viele der Millionen Fremdarbeiter in den führenden Industriestaaten leiden unter dem, was Marx »Sklaverei« nennt? Ja, man braucht nicht in die Dritte Welt zu schweifen, um in so mancher Beziehung eine zunehmende Verelendung - trotz wachsenden Lebensstandards für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten - festzustellen. Zudem: Die Verelendung von Existenzen besteht nicht zum wenigsten ganz einfach in der Tatsache, dass Menschen keine regelmäßige Beschäftigung im Kreise ihrer Arbeitskameraden haben, dass sie sich ausgestoßen fühlen - Parias der Gesellschaft.
Anfang der 1990er Jahre fragten Sie im »ND«: Droht uns wieder eine Große Depression wie 1929/32? Eine solche ist zehn Jahre nach ihrem Tod 1997 ausgebrochen. Und die Krise ist noch längst nicht überwunden. Unter ihr leidet auch nicht nur das griechische Volk …
Und man kann wahrlich mit neuen schlimmen Nachrichten vom Währungs- und Zinsmarkt rechnen - auch mit steigenden Inflationsraten. Keine der Marktwirtschaften der letzten zehntausend Jahre, auch nicht die bisher am höchsten entwickelte des Kapitalismus, hat den Menschen den allgemeinen Wohlstand und die soziale Sicherheit gebracht, die eine sozialistische Marktwirtschaft ihnen bringen kann und muss und wird.
Wer soll und wird denn noch einmal Sozialismus wagen?
Es wird das Volk sein, das eine neue sozialistische Gesellschaft aufbauen wird, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und in wunderbarer materieller und geistiger Blüte.
Sie sind wirklich ein unerschütterlicher Optimist, Herr Kuczynski.
Fragen: Karlen Vesper; die Antworten stammen aus ND-Artikeln von J.K. und seinen Memoiren.
2.9., Parkumbenennung 17 Uhr am Kreuzpfuhl, Pistoriusstraße/Ecke Woelckpromenade, Würdigung u. a. durch Prof. Hermann Klenner 18 Uhr im Frei-Zeit-Haus in der Pistoriusstr. 23
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