Um Ehre und Eignung
Aufbruch, Befreiung und Berufsverbote: Wie sich Zeitzeugen und Akteure an die Wendejahre an der Rostocker Universität erinnern
Als die DDR in Bewegung geriet, kam der Impuls nicht von den Hochschulen. Dennoch rief auch in Rostock die Unileitung im Oktober 1989 auf, »Vorschläge, Meinungen und Angebote« für »den Prozess der demokratischen Erneuerung« zu machen. Solche Vorschläge gab es zuhauf - und was daraus wurde, prägt die Universität bis heute.
Im April 2015 versammelte daher die Rosa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern Zeitzeugen wie Akteure der Vorgänge zu einem Symposion, das aus verschiedenen Perspektiven eine Bilanz zog. Auch wenn sich die »Wende« an verschiedenen Hochschulen verschieden gestaltete, gibt die daraus entstandene Materialsammlung einen exemplarischen Einblick in das Erleben dieser Zeit an den Universitäten der DDR. Den einen ist nur ein Aufbruch zum Besseren in Erinnerung, andere fühlten sich gedemütigt. Wieder andere waren erst enthusiastisch und blieben am Ende auch enttäuscht zurück.
Zu den Letzteren gehört der Mathematiker Gerhard Maeß, seit 1980 Professor in Rostock und von 1990 bis 1998 dort Rektor. Er ruft jene Begeisterung wach, die viele zunächst ergriff: Hochschulautonomie im Sinne Humboldts, gar eine basisdemokratische Ordnung der Uni schienen plötzlich nicht nur möglich, sondern wurden beschlossen.
So installierte in Rostock eine Urwahl zunächst die Drittelparität - eine Stimmgleichheit von Professoren, des akademischen Mittelbaus sowie der Studierenden und technischen Mitarbeiter in den Leitungsgremien, was über das Hochschulrahmengesetz hinaus wies. Später wurde die Entscheidung revidiert. Als Enttäuschung erlebte der Bundesverdienstkreuzträger auch die Hochschulautonomie: Dieser »Traum« sei schnell »geplatzt«. Stattdessen »begann ein permanentes Hineinregieren des Kultusministeriums«.
Einschneidender noch als diese Reformen verlief auch in Rostock der Elitenaustausch: Gehörte etwa Maeß selbst zu den Gewinnern, gelang nach seinen Worten von 575 Lehrkräften nur 70 eine Rückkehr auf ihre oder eine adäquate Stelle. Andere mussten gehen oder sich unten einreihen. Begleitet wurde dies von Lohndiskriminierung: Wer aus dem Westen kam, verdiente 40 Prozent mehr.
Organisiert wurde der Austausch mittels einer »Ehrenkommission«, die etwa bei Zusammenarbeit mit dem MfS Kündigungen empfahl. Zu über 90 Prozent sprach diese Kommission bei Rostocker Lehrkräften laut Wolfgang Methling - bis 1998 Professor für Tiergesundheit, bis 2006 Landesumweltminister - keine oder geringfügige Beanstandungen aus. Diese »Ehrverfahren« waren umstritten; laut Methling soll es eine »schwarze Liste« gegeben haben, »Urteile« hätten oft a priori festgestanden, Mitgliedschaft in der SED war ein Problem, in den Blockparteien nicht.
Auf das »Ehr-« folgte noch das »Überleitungs-« und das »Übernahmeverfahren«. Dieses war die letzte Hürde, die tatsächliche Bewebung um eine Stelle. Zuvor musste allerdings das »Überleitungsverfahren« absolviert werden, bei dem Wissenschaftler aus den alten Ländern die fachliche Eignung derjenigen aus den neuen begutachteten.
Dass sich dabei - nicht nur bei Sozial- oder Geisteswissenschaftlern - Fachliches von Politischem nicht trennen ließ und oft auch Vorurteile die Feder führten, kann kaum verwundern. Viele Westkollegen hielten DDR-Wissenschaft damals schlicht für »Müll«. Und manchmal waren die Fächer und ihre Methoden auch einfach nicht kompatibel, berichtet etwa der Ökonom Jürgen Graßhoff, der bis 2006 an der Rostocker Uni Unternehmensrechnung und Controlling lehrte: »Wie sollte ein DDR-Wissenschaftler die Kapitalwertmethode anwenden, wenn es in der DDR kein Kapital gab? Das führte zu ziemlich schlimmen Resultaten in der Beurteilung.« Dass die Überleitung bei den Rostocker Ökonomen dennoch »fair« verlaufen sei, habe weniger mit diesem Beurteilungssystem zu tun gehabt als mit dem engagierten Wirken Einzelner.
Zu denen, die all das nicht überstanden, gehörte der Lateinamerikawissenschaftler Werner Pade, der das Kolloquium für die Stiftung mitorganisiert hatte und in dessen Worten noch immer Bitterkeit mitschwingt: »Das war angesichts dessen, dass ich nichts gelernt hatte, als zu lesen und zu schreiben und aus Sicht anderer, die zunehmend den Ton angaben, die falsche Weltanschauung hatte, eine überaus komplizierte Situation, die ich dank meiner Familie überstehen konnte, allerdings nicht ohne weitreichende Auswirkungen auf die soziale Situation meiner Kinder und Enkel bis heute.« Wolfgang Schareck, der aktuelle Rektor, hat Verständnis auch für solche Sichten: »Es war natürlich auch eine Zeit der ausgesprochenen Berufsverbote und im Einzelschicksal eine Zeit der Bewältigung von sehr schmerzlichen Erfahrungen in der DDR.«
Wenn die Broschüre über jenes Kolloquium am heutigen Donnerstag vorgestellt wird, ist das nicht nur eine Gelegenheit zum Erinnern. Vielleicht ließe sich auch diskutieren, ob diese nicht als Vorlage zu einer systematischeren Erforschung und Darstellung der damaligen Vorgänge in Rostock dienen könnte - oder darüber hinaus: 2014 hat Adriaan in ’t Groen ein gutes Buch über die »Wende« an der Berliner HU vorgelegt. Eine ähnlich kritische Aufarbeitung für die gesamte Ex-DDR steht aus.
3. 9. um 10.30 Uhr, Peter-Weiss-Haus Rostock, Doberaner Str. 21. Tel. 0381/4900450; mv@rosalux.de
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