Das Wissen der Vielen gegen die Macht der Wenigen

Das Online-Nachschlagewerk Wikipedia ist sehr nützlich, aber auch ein ständiger Kampfplatz anonymer Attacken. Von Eckart Roloff

  • Eckart Roloff
  • Lesedauer: 6 Min.

Es muss gesagt sein, wenn auch nicht zum ersten Mal: Wikipedia ist eine gute, eine geniale, eine großartige Geschichte. Zehntausende von Menschen in fast allen Ländern der Erde haben sich seit 2001 zusammengetan, ganz freiwillig, um sie aufzubauen und Tag für Tag fortzuschreiben: die größte Online-Enzyklopädie dieser Welt, verfügbar in über 285 Sprachen. Die weitaus meisten ihrer Mitarbeiter kennen sich untereinander nicht und sind meist keine professionellen Autoren. Was sie beitragen, nützt nicht nur Schülern und Studenten, Lehrern, Journalisten und Verbandsleuten, sondern allen, die etwas wissen wollen. Sie müssen dazu im Internet nur den Begriff eingeben, zu dem sie etwas suchen. Die Chance, dass sie rasch fündig werden (und gut aufgeklärt), ist beträchtlich. Und alles gratis! Ob über die Geschichte der Waschmaschine, den Plagiator Guttenberg, den Sägerochen, die neuesten »Tatort«-Folgen oder norwegische Tunnel - egal.

Arbeitet ein Lexikonverlag herkömmlicher Art meist mit festangestellten Fachredakteuren und externen Zuträgern, achtet er streng auf den Redaktionsschluss und auf Stichworte, die jahrelang unverrückbar bleiben, so speisen sich Wikipedia-Texte aus dem, was Heerscharen Freiwilliger eingeben. Das hat oft nur wenige Minuten Bestand. Ständige Veränderung ist normal, ein Redaktionsschluss unvorstellbar. Die Länge der Beiträge ist unbegrenzt; viele Stichworte wären in ein konventionelles Nachschlagewerk nie aufgenommen worden.

Eckart Roloff

Eckart Roloff (Jahrgang 1944) hat Publizistik, Soziologie und Germanistik studiert und 1972 eine Dissertation über den Medizinjournalismus abgeschlossen. Er leitete 20 Jahre lang das Wissenschaftsressort einer Wochenzeitung und ist Träger des Theodor-Wolff-Preises. Er hat zahlreiche Beiträge für Bücher, Fachzeitschriften und Zeitungen geschrieben und ist Autor des Buches »Göttliche Geistesblitze«, das von 24 erfinderischen Theologen handelt. Seit gut fünf Jahren arbeitet er bei Wikipedia mit.

Doch das gilt auch: Wikipedia ist fürchterlich, macht Ärger, fordert Nerven. Da herrscht ein strenges Reglement, eine durchorganisierte Bürokratie - weit weg von der »freien Enzyklopädie« und dem »freien Wissen«. Da treten nicht nur wohlinformierte und gut formulierende Leute auf, sondern auch Rechthaber, Machtbesessene und hartnäckige PR-Lobbyisten, die gegen Geld stark werbelastige Einträge durchdrücken. Vor wenigen Tagen musste die englischsprachige Wikipedia deshalb 210 Artikel löschen und knapp 400 Konten sperren; vor zwei Jahren war Ähnliches schon einmal nötig. Mehr als ärgerlich sind aber auch die Akteure,, die andere gern beleidigen, gezielt attackieren und die Vulgärsprache für den normalen Umgangston halten.

Das geschieht meist im Schutz der Anonymität, einem der grundlegenden Probleme des Internets. Nur wenige Wikipedianer nennen ihren richtigen Namen; Pseudonyme à la Schnabeltassentier, hs-berlin, si je puis, Chaospur und Hiku2Aka sind normal - auch bei denen, die sonst viel von sich preisgeben. Etwa dass sie Nichtraucher sind, sächsisch sprechen, gern Sudokus lösen und Motorrad fahren. Dass Klarnamen nicht nötig sind, ist kaum zu kritisieren; anders wäre alles noch schwieriger. Vermutlich würden dann nur wenige mitarbeiten, und Wikipedia hätte keinen so beachtlichen Erfolg erzielt.

Dieser Erfolg erklärt sich auch damit, dass das System Wikipedia einem den Zugang leicht macht, wenigstens zunächst. »Wikipedia funktioniert denkbar einfach«, heißt es im »Kleinen Wikipedia-Einmaleins für Wikipedianer und alle, die es werden wollen«. Dazu seien »keine Anmeldung und auch keine zusätzliche Software erforderlich«, auch keine technischen Kenntnisse. Auf der fünften Seite dieses Leitfadens steht nach einigen Erläuterungen: »Das Arbeiten mit Wikipedia haben Sie jetzt in Grundzügen kennengelernt.«

Was für ein Irrtum! »In Wikipedia einzusteigen, ist nicht einfach« - so zitierte »neues deutschland« am 1. September 2014 die Berlinerin Silvia Stieneker, die durch Kurse anderen Frauen das Mitmachen erleichtern will. Auch nach Monaten der Mitarbeit lässt sich nur erahnen, wie dort vorgegangen wird, durch das System und dessen Zuträger, die Autoren. Davon spricht dieses »Einmaleins« nicht. Und ein Buch, in dem man alles ausführlicher nachlesen könnte, gibt es von Wikipedia nicht. Möglich ist nur, sich all das seitenweise auszudrucken, was sich unter »Wikipedia:Richtlinien« zu Begriffen wie Autorenportal, Grundprinzipien, Relevanzkriterien, Belege, lebende Personen, Typografie und anderen findet. Das kann einen schnell überfordern.

Um die Wikipedia-Welt zu verstehen, ist dies wichtig: Man lese nicht allein den Artikel etwa zu Treuhandanstalt, Rügen und Grexit, sondern klicke auf den Link »Versionsgeschichte« und den Link »Diskussion« zu diesen Artikeln, auch Lemmata genannt. Und schon lässt sich nachlesen, was sich da abspielt, wie da ergänzt, gedankt und gelöscht wird, jedoch ebenso gestritten, gekämpft, gedroht, abgekanzelt. Rundumschläge und Verbalinjurien sind nicht selten. Dagegen helfen auch die freundlichen Hinweise zur Wikiquette nicht (etwa »Sei nett zu Anfängern«). Das wird gern ignoriert.

Dies ist nicht unbedingt Wikipedia zur Last zu legen, sondern ein allgemeines und oft beklagtes Phänomen des Internets und seiner Anonymität. Das lässt übliche Anstandsformen sehr oft vergessen. Doch erstaunlich ist es schon, dass dies auch hier so grassiert, da sich alles um Wissen, Aufklärung und sinnvolle Aufbauarbeit drehen sollte. Es ist, als wollten viele, viele Leute ein für alle nützliches Gebäude errichten, doch einigen gefällt es, Ziegel herauszubrechen, schlechten Mörtel anzurühren und dabei Schmährufe loszulassen.

Schon 2006 meinte der Informatiker und Künstler Jaron Lanier, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, zum Arbeitsklima bei Wikipedia: »Menschen sind gemein zueinander. Diese Konflikte sind übel, hässlich und haben nichts mit zivilisiertem Umgang zu tun. Nicht ohne Grund heißen sie Edit-Wars, also ›Bearbeitungs-Kriege‹.« Erkennbar wird auch, dass manche Zeitgenossen regelrechte Weisungen erteilen und den Imperativ bevorzugen, weit entfernt von der kollegialen und kooperativen Haltung, wie sie für solche Gemeinschaftswerke selbstverständlich sein müsste.

Das alles geschieht übrigens, indem man sich duzt, so wenig man sich auch kennt. Das Duzen ist nicht verpflichtend, aber der Normalfall, dem fast alle folgen - so kurios es auch ist, wenn man sich dabei beschimpft und andere wissen lässt: »Du hast hier nichts zu suchen«, »Deine Mitarbeit ist unerwünscht«, »Du bist nicht mein Schulmeister«, »Du Rüpel« oder »Du willst doch nur provozieren«. Wem irgendein Eintrag nicht gefällt, kann gegen den Autor eine VM starten, eine Vandalismusmeldung. Die wird dem Autor zugestellt, natürlich anonym. So gewaltig sie klingt - Folgen hat sie höchstens bei extremer Häufung.

Woher kommt diese aggressive Haltung? Weil hier mit rund 85 Prozent wesentlich mehr Männer als Frauen mitmachen und kaum behindert ihre Machtgelüste ausleben können? Mag sein, doch kaum zu beweisen. Woher aber kommt die Freude daran, andere zu verletzen und sich für unfehlbar zu halten? Die wenigsten Wikipedianer dürften schon Bücher oder auch nur Artikel für Zeitungen oder Fachblätter geschrieben haben; nicht alle wissen, wie man ein Zitat ordentlich belegt. Hier aber kennen sie keine Scheu. Artikel, die sie begonnen und gefüllt haben, werden gleichsam ihr Eigentum, ihr Hoheitsgebiet - Zutritt verboten. Es sei denn, es gibt Lob. Wie gut, dass andere viele Fehler rasch, gut belegt und ohne Hetzerei korrigieren.

Gern schwelgen Mitarbeiter in Kürzeln und Fachvokabeln. So steht kB für »kein Bock«, DAU für »dümmster anzunehmender User«, RTFM für »read the fucking manual«, also »lies das verdammte Handbuch«, VL für »Versionslöschung«, SLA für »Schnelllöschantrag« und PA für »persönlicher Angriff«. Für Neulinge - auch Newbies genannt - ist das unverständlich und abstoßend. Das führt zu »sozialer Exklusion«, wie sie der Soziologe Christian Stegbauer bei Wikipedia bemerkt hat. Aber es gibt nun einmal Menschen, die sich darin gefallen, verklausuliert aufzutreten. Sie merken nicht, dass totalitäre Systeme genau auf dieses Abschotten durch interne Sprachregelungen setzen.

Wikipedia ist so offen, selbst eine lange und gut gegliederte Liste kritisierter Punkte bereitzuhalten. So an der nicht gesicherten Vertrauenswürdigkeit, an Einflüssen durch Interessengruppen, am schnellen Löschen, an möglicherweise bezahlten Einträgen, am Sprachstil, am Qualitätsunterschied einzelner Beiträge, an Urheberrechtsproblemen, mangelnder Diskussionskultur und Machtmissbrauch.

Trotz all der Ärgernisse: Wikipedia ist etwas sehr Brauchbares und Löbliches; die Pluspunkte überwiegen deutlich. Ein Blick darauf lohnt sich fast immer, das führt weiter, etwa bei Definitionen, Positionen und Literaturangaben. Aber etwas Kritik muss sein, so gering die Hoffnung auch ist, dass sie überflüssig wird.

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