Die LINKE und der Grexit
Der Bruch mit der Gemeinschaftswährung muss Teil einer sozialistischen Strategie sein - diese darf sich aber nicht darauf beschränken. Ein Beitrag zur linken Euro-Debatte von Heino Berg
Alexis Tsipras, der Ministerpräsident der Syriza-geführten Regierung in Athen, hat sich gegenüber der Eurogruppe zur Umsetzung derselben Troika-Diktate verpflichtet, die beim Referendum wenige Tage vorher noch mit deutlicher Mehrheit abgelehnt wurden und die die früheren sogar noch übertreffen. Diese griechische Tragödie führt unter den Linksparteien überall in Europa und auch in Deutschland zu heilloser Verwirrung. Die Linksfraktion im Bundestag hat im Gegensatz zum Abkommen vom 20. Februar diesen Jahres den ESM-Kredit diesmal abgelehnt. Gleichzeitig hat aber ihr Vorsitzender Gregor Gysi, ähnlich wie der Vorsitzende Europäischen Linken, Pierre Laurent, den griechischen Syriza-Abgeordneten eine Zustimmung zu diesem Kürzungs- und Privatsierungsprogramm empfohlen,
Die Kapitulation und die europäische Linke
Damit wird Griechenland und sein Parlament offiziell unter Kuratel gestellt und in eine Art Protektorat der Gläubigerinstitutionen verwandelt. Die bedingungslose Unterwerfung von Tsipras und seiner – inzwischen gesäuberten – Regierungsmannschaft stößt in Syriza selbst auf massiven Widerstand. Eine Mehrheit der Mitglieder des Zentralkomitees hatte sich dagegen ausgesprochen, Tsipras berief aber keine Sitzung dieses Führungsgremiums ein. Nun soll ein Sonderkongress stattfinden – jedoch erst im September, also nach der Unterzeichnung der Verträge. So sind die Syriza-Mitglieder und ihre Delegierten von der Entscheidung über die Zukunft ihrer Partei und ihres Landes ausgeschlossen. Die Spaltung von Syriza und die Neuformierung der griechischen Linken erscheint damit unvermeidlich.
Unklar und sehr umstritten bleibt in der Diskussion darüber die entscheidende Frage, welche politischen Handlungsalternativen einer linken Regierung gegen das finanzielle »Waterboarding« durch die Herrschenden in der EU überhaupt zur Verfügung stehen. Janine Wissler und Nicole Gohlke gehören zu den PolitikerInnen in der LINKEN, die zumindest nachträglich die Hoffnungen von Tsipras auf einen akzeptablen Verhandlungskompromiss mit der Troika bezweifeln und nun – ähnlich wie die Mehrheit der Linken Plattform in Syriza – durch einen gemeinsamen Artikel im »Neuen Deutschland« die Frage nach dem Grexit, also nach einem Bruch mit der Eurozone aufwerfen. Diese Diskussion über die Währungsfrage ist zweifellos notwendig: Aber SozialistInnen müssen diese mit Übergangsforderungen verbinden, die einen Bruch mit den kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen und die Frage aufwerfen, wer die Macht in der Gesellschaft ausübt. Dann sind realistische Alternativen zur Austeritätspolitik in Europa erkennbar zu machen.
Wissler und Gohlke betonen zunächst, dass in der LINKEN eine kritische Debatte über die Politik der griechischen Regierung notwendig ist: »Weder sollten wir jetzt alles ablehnen, noch alles unkritisch unterstützen, was die Syriza-Regierung versucht hat, um die massenhafte Verarmung der GriechInnen zu beenden. (…) Wir schulden uns und unseren GenossInnen in Griechenland stattdessen eine gleichermaßen ehrliche wie solidarische Debatte über die strategischen Erfolge wie auch die Fehler der letzten Zeit, gerade wenn wir künftig weiter gemeinsam gegen Austerität in Europa streiten und uns auf die kommenden europäischen Kämpfe vorbereiten wollen.«
Diese Bereitschaft zur solidarischen Kritik unter Linken unterscheidet sich wohltuend von denjenigen Politikern der deutschen Linkspartei, welche die Kapitulation von Tsipras als alternativlos rechtfertigen und damit den Kampf gegen die Austeritätspolitik in Europa gänzlich von Veränderungen in den mächtigen Staaten, vor allem Deutschland, abhängig machen. Wer die Kehrtwende von Tsipras gegen seine Kritiker auch in der griechischen Schwesterpartei verteidigt oder sie mit nicht hinreichender Unterstützung außerhalb von Griechenland entschuldigt, behindert die notwendige internationale Solidarität mit dem Kampf der griechischen Bevölkerung gegen das Diktat der Troika.Wer diese bittere Wahrheit verschleiern oder ins Gegenteil verkehren möchte, untergräbt die Glaubwürdigkeit linker Forderungen gegen die Austeritätspolitik. Und zwar nicht nur in Griechenland, sondern auch im eigenen Land.
Ein Grexit alleine löst nichts
Wissler und Gohlke rechtfertigen Vieles der Verhandlungsstrategie, die die griechische Regierung in die Sackgasse und schließlich zur vollständigen Kapitulation geführt hat. Ihre vorsichtige Kritik stellt lediglich fest, dass sich die griechische Regierung durch den Verzicht auf jede Ausstiegsoption erpressbar gemacht und den Ultimaten der Troika hilflos ausgeliefert habe. Zu ergänzen wäre, das dies auch für die Zusicherung galt, die Bankenrettungskredite »pünktlich und vollständig« zu bedienen sowie vor allem für den Verzicht auf jede »unilaterale Maßnahme« Griechenlands im Abkommen vom 20. Februar. Damit hatten sich schon im Februar Tsipras und Varoufakis an Händen und Füßen gefesselt. Durch die Preisgabe jedes selbstständigen Regierungshandelns im Sinne ihres Wahlauftrags konnten sie nur noch als Bittsteller zu den angeblichen »Verhandlungen« antreten, woran in der Substanz auch die betont selbstbewusste Attitüde des früheren Finanzministers wenig änderte.
Das Februar-Abkommen, bei dem sich Gohlke in der Bundestagsfraktion und Wissler im Parteivorstand enthalten hatten, sah vor, dass die griechische Regierung offiziell auf sämtliche einseitigen (also nicht von der Troika mitgetragenen) Maßnahmen und Gesetze verzichtet, mit denen sie ihre Wahlversprechen zur Umverteilung der Krisenlasten von den Opfern auf ihre kapitalistischen Verursacher wenigstens annähernd hätte umsetzen können. Dementsprechend untätig sah die Regierung Tsipras zu, wie das griechische Kapital ins Ausland geschafft und die Wirtschaft von ihren Eigentümern noch tiefer in den Ruin getrieben wurde, während die Syriza-Anel-Regierung gleichzeitig die noch verbliebenen Geldreserven im ausgeplünderten Staatshaushalt brav und ohne jede Gegenleistung bei der Troika ablieferte.
Wissler und Gohlke problematisieren zwar nicht den weitgehenden Verzicht auf die im Programm von Thessaloniki versprochenen Reformen, für die Syriza ursprünglich angetreten war und gewählt wurde, nachträglich aber immerhin die bedingungslose Festlegung der Athener Regierung auf die Europäische Union und den Euro, mit der sich insbesondere das deutsche Kapital den privilegierten Zugang der ökonomischen Vormacht auf den europäischen und griechischen Märkten sichern und ihre Exportoffensive gegen Abwertungen schützen kann. Den beiden Genossinnen zufolge haben sie und die Führung der deutschen LINKEN in der vergeblichen Hoffnung auf einen Mittelweg eine Strategie unterstützt, die direkt zur Kapitulation führen musste: »Aber es konnte (und musste vielleicht) so weit kommen, weil die zentralen Prämissen der politischen Strategie seitens der griechischen Regierung – nämlich die Notwendigkeit des Verbleibs im Euro bei gleichzeitiger Ablehnung der Austeritätspolitik – am Ende keinen anderen Ausweg zugelassen haben, als das Diktat von Merkel und Schäuble zu unterschreiben. Wir haben unsere GenossInnen in dieser Strategie unterstützt und gehofft, dass es doch irgendeinen Weg dazwischen geben könnte. Jetzt haben wir lernen müssen: Diesen Weg gab es nicht.«
Linke Fehleinschätzungen zur EU und zum Euro
Diese späte Einsicht wirft grundsätzliche und programmatische Fragen für DIE LINKE auf: Die Partei hatte bei ihrem Hamburger Europaparteitag im Februar 2014 – ebenso wie Syriza und die Mehrheit der Europäischen Linken – eine kritische Unterstützung der EU-Institutionen beschlossen. Damals hatten nur wenige Kräfte der Linken in der LINKEN, vor allem die Antikapitalistische Linke (AKL) und SAV-Mitglieder dagegen Widerstand geleistet. Doch dem Parteitag zufolge seien die EU-Institutionen grundlegend reformierbar und nicht als »neoliberal, undemokratisch und militaristisch« zu bezeichnen. Auch das hat sich in den Auseinandersetzungen um Griechenland als groteske Fehleinschätzung erwiesen. Die Austeritätsdiktate der EU wurden unter dem Druck der Bevölkerung und sogar von Volksabstimmungen keineswegs abgemildert oder ihre Institutionen »demokratisiert«, wie es DIE LINKE in Hamburg blauäugig gefordert hat, sondern im Gegenteil bis zur unverhüllten Plünderung und Unterwerfung der betroffenen Völker vorangetrieben.
Die SAV schrieb im April 2014 in ihrer Broschüre »Europa in der Krise« dazu: »Doch die EU ist kein Gestaltungsrahmen, der einfach – je nach politischer Mehrheit im Europaparlament oder den Mitgliedsländern – mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt werden kann. Alleine die Existenz von europäischer Kommission und Europäischen Rat als nicht gewählten, sondern von den nationalen Regierungen bestimmten, aber mit weitgehenden Entscheidungsbefugnissen ausgestatteten Institutionen sind Zeugnis dafür, dass eine tatsächliche europaweite Demokratie in der EU nicht vorgesehen ist.« (S. 45)
Die EU und ihre Exekutivorgane sind und bleiben Instrumente der Banken und Konzerne – und sonst gar nichts. Jede Schwächung der EU und ihrer Institutionen durch Volksabstimmungen wie in Frankreich, den Niederlanden, Irland oder demnächst in Großbritannien sollte deshalb durch die europäischen Linksparteien unterstützt werden, anstatt diese bröckelnde Festung der Herrschenden gegen Widerstände von innen und außen weiterhin zu verteidigen. Bei der »Linken Plattform« in Syriza heißt es mit Recht: »Die Eurozone und die EU lassen sich hier, wo sie angelangt sind, nicht reformieren, noch auf ein neues Fundament stellen: Sie lassen sich nur stürzen.« (Europa in der Krise, SAV, S. 48)
Zum Verhältnis von Währungs- und Systemfragen
Dasselbe gilt für den Euro. Die Gemeinschaftswährung in der europäischen Freihandelszone dient den stärksten Konzernen und Mächten auf dem Kontinent, um ökonomisch schwächere Konkurrenten von den Märkten und Rohstoffquellen zu verdrängen. Der Euro verringert ja nicht die Konkurrenz der Konzerne und Staaten auf dem gemeinsamen Binnenmarkt, sondern verstärkt sie im Gegenteil und beseitigt zudem politischen Regeln und Errungenschaften, welche die Arbeiterbewegung in den nationalen Parlamenten durchsetzen konnte und die das freie Spiel der Profitgesetze einschränken. Selbst die Lohnabhängigen in Deutschland, dessen Konzerne den Wettlauf um die Vorherrschaft gewinnen konnten, haben nur wenig von diesem gemeinsamen Binnenmarkt, weil sie die Standortvorteile des deutschen Kapitals mit Dumpinglöhnen und zunehmend prekärer Beschäftigung bezahlen müssen.
Obwohl sogar hierzulande wenig übrig geblieben ist von dem in den bürgerlichen Medien, Parteien und der Gewerkschaftsbürokratie systematisch betriebenen EU- und Euro-Hype, bleiben diese Fragen für Linke ein schwieriges Gelände. Das nicht zuletzt, weil sich rechtspopulistische und rechtsnationalistische Kräfte durch ihre Opposition gegen EU und Euro eine Basis in der Bevölkerung aufbauen wollen. Um in dieser Auseinandersetzung zu bestehen, muss die Linke deutlich machen, in wessen Interesse Politik betrieben werden soll.
Politik im Interesse der Mehrheit der GriechInnen (bzw. der europäischen Bevölkerung) kann nicht durch einen bloßen Austritt Griechenland aus der Eurozone, durch die Rückkehr zur Drachme oder ein System von freien Wechselkursen innerhalb der EU erreicht werden, wie dies Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht oder Teile der »Linken Plattform« in Syriza vorschlagen, um so dem notwendigen Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen auszuweichen. Der Hinweis darauf, dass auch der britische Kapitalismus mit seiner nationalen Währung kein Hort sozialen Fortschritts ist, sollte reichen, um deutlich zu machen, dass die Frage der Währung alleine nicht darüber entscheidet, wessen Interessen vertreten werden. Eine Politik im Interesse der Millionen abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten muss die System- und Eigentumsfrage aufwerfen.
Der Grexit als Mittel für sozialistische Veränderung
Der Grexit ist weder ein Allheilmittel für die griechische Wirtschaftskrise, noch in der Bevölkerung unumstritten. Im Gegenteil. Die Rückkehr zur Drachme oder ein abgewerteter Euro-Ersatz, der unter der Kontrolle Griechenlands steht und mit der Annullierung der Auslandsschulden verbunden ist, könnte der Binnenwirtschaft gegen übermächtige Konkurrenz aus dem Ausland auf die Beine helfen. Er verteuert aber auch den Import und neue Staatsanleihen, auf die Griechenland auch nach einem Grexit sicher nicht ganz verzichten kann. Entscheidend ist der Grexit für die politische Souveränität des Landes: Eine eigene Währung würde einer griechischen Linksregierung deutlich mehr Handlungsspielraum als unter Aufsicht der Troika verschaffen. Diese politische Bewegungsfreiheit ist allerdings nur dann für die Lohnabhängigen interessant, wenn die Regierung diese auch dazu nutzt, tatsächliche Verbesserungen für die Millionen einfacher Menschen umzusetzen. Das wiederum wird nur möglich sein, wenn sie bereit ist, einen Bruch mit dem Kapitalismus einzugehen.
Während es für ein Nein zur Austeritätspolitik in Griechenland klare Mehrheiten gibt, sah das bei der Frage nach einer Austritt aus dem Euro anders aus. Trotz massiver Pro-Euro-Propaganda durch fast alle politischen Parteien, die Regierung und bürgerlichen Medien waren aber in Meinungsumfragen immerhin fast die Hälfte der Befragten offen für einen Ausstieg Griechenlands aus der Gemeinschaftswährung. Hätte Syriza erklärt, dass ein Bruch mit dem Euro nötig ist, um ihr Wahlprogramm umzusetzen, hätten das die Mehrheitsverhältnisse sicher deutlich verändert. Ein Grexit fand in Umfragen bisher keine Mehrheit, weil die Regierung wider besseres Wissen verschwieg, dass ohne ihn keine Annullierung der Schulden, und kein Ende der Kürzungsdiktate, Korruption und Kapitalflucht erreichbar sind.
Aber auch ein Grexit alleine garantiert keine Erholung der griechischen Wirtschaft, sondern nur, wenn er Teil eines sozialistischen Regierungsprogramms ist. Während Gohlke und Wissler den Grexit in ihrem Beitrag nachträglich als Königsweg bzw. als alleinige Alternative zur bedingungslosen Kapitulation vor dem Austeritätsdiktat in Brüssel anpreisen, ist er in Wirklichkeit nur ein notwendiger Bestandteil von antikapitalistischen Übergangsmaßnahmen zur Reorganisierung der griechischen Wirtschaft auf sozialistischer Basis. In einem von SAV-Mitgliedern unterstützten Antrag zum letzten Bundesparteitag der LINKEN hieß es: »Wir erwarten von der Bundestagsfraktion (…) eine Unterstützung einer griechischen Linksregierung, wenn diese, aus unserer Sicht notwendige Maßnahmen zum Bruch mit den kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnissen ergreift, wie die demokratische Verstaatlichung von Banken, Enteignung von Reedern und Kircheneigentum, Einführung von Kapitalverkehrskontrollen und einem staatlichen Außenhandelsmonopol – auch wenn das den Bruch mit EU und Euro bedeuten sollte« (Quelle sozialismus.info Nr. 25). Hier ist der Grexit ein Mittel für die Durchsetzung von linker Politik – und keine Maßnahme, die für sich genommen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung wirkt.
Glaubwürdige Alternativen zur Fortsetzung der Kürzungspolitik, die nun auch Tsipras der geschundenen griechischen Bevölkerung verordnen will, müssen von ihren unmittelbaren Problemen ausgehen, die sich den Menschen im Alltag und nicht zuletzt vor den Bankschaltern stellen.
Geldversorgung
Das EZB-Verbot einer ausreichenden Bankenrekapitalisierung mit Hilfe der Ela-Kredite hat – zusammen mit der Kapitalflucht – die griechische Wirtschaft vor und nach dem Referendum an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Die restriktive Kontrolle der EZB und des konservativen griechischen Zentralbankchefs Yannis Stournaras über die Geldversorgung sollten – wie es der EU-Kommissar Dijsselbloom offen zugegeben hat – einen Bankenkollaps auf die Tagesordnung setzen und in der Bevölkerung Befürchtungen über die Sicherheit der in Euro gebuchten Spar- und Renteneinlagen schüren.
Unter diesen Bedingungen und ohne öffentlich vorbereitete Alternativen kann der Grexit von vielen Menschen in Griechenland als ein Sprung ins Ungewisse wahrgenommen werden, bei dem die mühsam ersparten Rück- und Existenzgrundlagen der Bevölkerung auf dem Spiel stehen. Ein Bruch mit dem Euro – den die Syriza-Führung kategorisch abgelehnt hatte und der leider nicht einmal beim Referendum als Option für den Fall zur Abstimmung gestellt wurde – war deshalb auch nicht hinter dem Rücken der Bevölkerung und sogar der Syriza-Mitglieder durchsetzbar, wie das offenbar Varoufakis durch Planspiele in letzter Minute zur Debatte gestellt hatte.
Ein antikapitalistischer »Plan B«
Interne Überlegungen für einen auf den Grexit beschränkten »Plan B«, den nach Varoufakis nun auch Wissler und Gohlke nachträglich ist Spiel bringen, spiegeln das Versäumnis der Syriza-Führung, die Bevölkerung rechtzeitig auf die unvermeidliche Klassenkonfrontation mit dem Kapital und der Eurogruppe vorzubereiten.
Eine Fixierung auf die Grexit- und Währungsfrage, die in der deutschen LINKEN von KeynesianerInnen wie Lafontaine, Wagenknecht, Albrecht Müller und nun von Janine Wissler und Nicole Gohlke befürwortet wird, ignoriert die unmittelbaren Aufgaben und Möglichkeiten einer linken Regierung: Gestützt auf den Wahlerfolg und auf das Anti-Austeritätsmandat der Bevölkerung hätte die Syriza-geführte Regierung den Schuldendienst einstellen, durch eine demokratische Verstaatlichung der Banken und sofortige Kapitalverkehrsbeschränkungen die Kapitalflucht und die Steuerhinterziehung effektiv blockieren und die so frei werdenden Mittel für die Auszahlung von Ansprüchen der Bevölkerung zur Verfügung stellen müssen. Damit hätte die finanzielle Strangulierung Griechenlands zumindest gelockert und der unmittelbar drohende Staatsbankrott abgewendet werden können. Durch weitergehende Überführung der entscheidenden Wirtschaftsbereich in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die Arbeiterklasse und der Ausarbeitung eines demokratischen Wirtschaftsplans unter Beteiligung der Lohnabhängigen hätte ein Wiederaufbau der Wirtschaft auf sozialistischer Basis eingeleitet werden können. Die gewaltige Politisierung und Mobilisierung der Bevölkerung für das »Oxi« beim Referendum hat noch einmal bewiesen, welche Kräfte gegen die Herrschenden freigesetzt werden können, wenn sich SozialistInnen in der Regierung auf das Handeln der Betroffenen stützen, anstatt es nur als Druckmittel für Gipfeltreffen zu missbrauchen und dort ins genaue Gegenteil zu verwandeln.
Auf der Grundlage von sozialistischen Sofortmaßnahmen hätte die Bevölkerung auf den unvermeidlichen Bruch mit der Eurozone politisch vorbereitet werden können, um sich – gestützt auf das Referendum – von der finanziellen und fiskalischen Vormundschaft von Schäuble, Draghi und Lagarde zu befreien.
Griechenland und Europa
Selbstverständlich könnten solche Übergangsmaßnahmen, die in das Privateigentum des Kapitals eingreifen und die Ausplünderung der griechischen Wirtschaft durch das einheimische und ausländische Kapital stoppen, nicht schlagartig alle Probleme lösen. Griechenland kann keine sozialistische Insel in der kapitalistischen Weltwirtschaft werden und wäre weiterhin dem Druck des Weltmarkts ausgesetzt. Aber eine linke Regierung in Griechenland, die diesen Namen verdient, kann dem Druck des Kapitals nur standhalten, wenn sie ihre Wahlversprechen zum Bruch mit der Austeritätspolitik der Troika erfüllt und als glaubwürdige Alternative genau die »Dominoeffekte« bei den südeuropäischen Nachbarn auslöst, welche die Eurogruppe mit der kaum verhüllten Kolonialisierung Griechenlands nun im Keim ersticken will. Der europäische Kapitalismus könnte so an seinem schwächsten Glied brechen und eine sozialistische Arbeiterregierung in Griechenland hätte schnell in Spanien, Irland und anderen Ländern ähnliche Fragen auf die Tagesordnung gesetzt.
Entschlossene Maßnahmen zur Besteuerung und Enteignung von Vermögen und demokratischer Verstaatlichung von Banken und Konzerne würden den Hoffnungen der Bevölkerung in den Nachbarländern auf ein Ende der Kürzungspolitik in Europa und so der Solidarität mit Griechenland Auftrieb geben können, ohne die in der Tat ein Politik- und Systemwechsel in diesem kleinen Land weder politisch noch ökonomisch durchzuhalten ist.
Von solchen Maßnahmen, von Investitionsprogrammen und von wirklichen Sozialreformen, die Syriza vor den Wahlen versprochen hatte, die Millionen von Menschen auch außerhalb Griechenlands von der ersten Linksregierung in Europa erhofft hatten, ist in den meisten Diskussionsbeiträgen aus den Reihen der deutschen LINKEN und auch im Artikel von Janine Wissler und Nicole Gohlke jedoch kein Wort zu finden. In ihrer Bewertung der historischen Kapitulation von Brüssel geht es fast ausschließlich um die Grexit-Option, als ob die Schlüsselprobleme der Wirtschaft nicht in den privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen, sondern allein in der Geld- und Zirkulationssphäre angesiedelt wären.
Wissler und Gohlke weichen wie viele andere VertreterInnen der europäischen Linkspartei mit der Beschränkung auf die Währungsdebatte den Systemfragen aus, die durch die Krise in Griechenland und in der Europäischen Union aufgeworfen wurden. Das verengt die Debatte auf eine systemimmanente Logik.
Syriza steckt seit der bedingungslosen Kapitulation ihrer Regierungsmannschaft in einer Zerreißprobe, die über kurz oder lang zu einer Neuformierung der griechischen Linken führen muss. Die in Syriza gesetzten Hoffnungen können nur durch eine neue sozialistische Massenorganisation aufgegriffen und erfüllt werden. Xekinima, die Schwesterorganisation der SAV in Griechenland, tritt zusammen mit gut einem Dutzend anderer Kräfte in der »Initiative 17. Juli« für einen solchen Neubeginn ein. Die Syriza-Linke kann dabei eine Schlüsselrolle spielen, wenn sie nicht nur die Rückkehr zur Drachme, sondern ein vereinigtes, sozialistisches Europa auf ihre Fahnen schreibt.
Heino Berg ist aktiv in der Göttinger LINKEN und Mitglied des Landessprecherrats der Antikapitalistischen Linken (AKL) in Niedersachsen. Sein Beitrag erschien zuerst hier.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.