Deutsche Genossen zweifeln an Labour und Corbyn
SPD-Landesvorsitzender Nils Schmid warnt vor »Marsch in die Bedeutungslosigkeit«/ Parteivize Stegner: Labour werde hoffentlich »wieder proeuropäischer« / Linkspartei begrüßt Wahl des Sozialisten bei den britischen Sozialdemokraten
Update 15.45 Uhr: Skepsis in SPD nach Wahl Corbyns zum Labour-Chef
Lange hat die SPD fast ausnahmslos zur Wahl des neuen Labour-Party Vorsitzenden Jeremy Corbyn geschwiegen, nun äußern sich die deutschen Sozialdemokraten: Mit großer Skepsis.
Der baden-württembergische SPD-Vorsitzende und Landesfinanzminister Nils Schmid sieht Labour »auf dem Weg ins politische Nirvana«. Mit Corbyns Wahl habe sich Labour entschieden, »die Wirklichkeit lieber zu verdrängen als sie zu gestalten«, schrieb Schmid in einem Gastbeitrag für die »Welt«. Die Folge sei »ein langer Marsch in die Bedeutungslosigkeit«.
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Roth (SPD) konstatierte in Europa »eine diffuse Sehnsucht nach markanten Typen in der Politik, die eingezwängt zwischen Sachzwangslogik und Pragmatismus bisweilen farblos daher« komme. Die Sozialdemokratie habe »stets eine ausgewogene Balance finden müssen zwischen visionärem Aufbruch und praktischem Handeln, das ohne Kompromisse und eine Politik der kleinen Schritte nun einmal nicht auskommt«, sagte Roth der »Welt«.
Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Axel Schäfer äußerte Zweifel, dass Corbyn 2020 für das Amt des Premierministers antritt. Corbyn werde sich »sicher für eine junge Frau oder einen jungen Mann« als Spitzenkandidaten stark machen, sagte er.
Corbyns Wahl lässt SPD-Spitze verstummen
Berlin. Es hat eine ziemliche Weile gedauert, bis sich bei der SPD einmal jemand aus der ersten Reihe zur Wahl von Jeremy Corbyn an die Spitze der britischen Schwesterpartei geäußert hat. Keine Erklärung der Parteispitze, keine Wortmeldung von Sigmar Gabriel, der sonst nicht gerade als zögerlich gilt, wenn es irgendetwas zu kommentieren gibt.
Am Sonntagmorgen meldete sich dann immerhin Parteivize Ralf Stegner zu Wort. »In der Labour Party setzt sich das linke Enfant terrible Corbyn durch«, so die Reaktion des Parteilinken auf die Ereignisse in Großbritannien. »Die herben Niederlagen und der rechte Kursschwenk seit Tony Blair war den Parteimitgliedern nun wohl zu viel«, so Stegner. Er sprach von einem deutlichen Votum im Mitgliederentscheid und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Labour nun »wieder proeuropäischer« werde und »sich den europäischen Sozialdemokraten wieder« annähere.
Am Samstag hatte sich der Landesvorsitzende der SPD in Baden-Württemberg, Nils Schmid, noch anders eingelassen. Er nannte Corbyns Wahl auf Twitter »schlechte Nachrichten« und »eine Flucht vor der Realität«. Schmid hoffe, Labour werde nun »nicht für viele Jahre bedeutungslos«.
Glückwünsche zu Corbyns Wahl kamen dagegen von der Linkspartei. Bundestagsfraktionsvize Dietmar Bartsch twitterte, dass »ein überzeugter Sozialist« neuer Labour-Chef ist, sei »ein guter Tag für die europäische Linke«. Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger. »New Labour« war gestern, so Riexinger, »die Zukunft ist links«. Die Mitglieder und Unterstützer der Partei hätten deutlich gemacht, »dass sie keinen Parteichef wollen, der sich im Establishment behaglich einrichtet«. Corbyn sei stattdessen »ein aufrechter Sozialdemokrat, der mit der neoliberalen Kürzungspolitik brechen und die in weiten Teilen privatisierte Daseinsvorsorge wieder in öffentliche Hände geben will«.
Riexinger sagte mit Blick auf die SPD, die »unter Sigmar Gabriel ökonomenhörig vor sich hin stagniert und ihren sozialen Kompass längst verloren hat«, der Partei könne »jemanden wie Jeremy Corbyn nur wünschen«. Der Linkenpolitiker Stefan Liebich reagierte mit den Worten, »die überzeugende Wahl von Jeremy Corbyn zum neuen Labour-Vorsitzenden vergrößert die Möglichkeiten für einen Neustart in Europa hin zu einer demokratischen, sozialen, friedlichen Europäischen Union«. Corbyns Positionen stünden »nicht nur im Gegensatz zur konservativen britischen Regierung, sondern bedeuten auch eine Abkehr vom verhängnisvollen New Labour-Kurs, der die europäische Sozialdemokratie geradewegs ins neoliberale Jammertal geführt hat«.
Der Außenpolitiker Liebich nannte die Wahl des linken Abgeordneten an die Spitze der britischen Partei zudem einen »Ausdruck der europaweit wachsenden Unzufriedenheit mit dem antisozialen Kurs der europäischen Regierungen und Institutionen«. So wachse »die Chance, dass eine Alternative zur herrschenden Politik in Europa an Kraft gewinnt. Die Linke in Europa wie in Deutschland ist aufgerufen, diese Chance zu nutzen«, so der Bundestagsabgeordnete.
Im SPD-Blatt »Vorwärts« war am Samstagabend dann immerhin eine Korrespondenz aus London zu lesen: »Aufgrund der deutlichen Mehrheit bei der Wahl zum Vorsitzenden zweifelt inzwischen kaum noch jemand daran, dass Corbyn im Jahr 2020 als Labour-Kandidat für das Amt des Premierministers antreten wird. Er wird nicht einfach werden, Kandidaten für sein Schattenkabinett zu finden. Einige Prominente wie Corbyns Gegenkandidatin Yvette Cooper kündigten bereits an, dass sie nicht zur Verfügung stehen. Wenn es Corbyn mit seinem Versprechen ernst meint, die Partei zusammen zu halten, kann er sein Schattenkabinett aber nicht nur mit Leuten vom linken Flügel besetzten. Es wird in den kommenden Wochen noch spannende Diskussionen geben.« nd
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