Der Reiz des Unvollendeten

»Wenn ich groß bin, werd’ ich Dichter« - frühe Texte bekannter Gegenwartsautoren

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Florian Werner, selbst Verfasser erzählender Literatur, hat frühe Texte von dreiunddreißig namhaften deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen und -autoren zusammengestellt. Jedem Text ist jeweils ein kleiner, oft sehr witziger, manchmal auch besinnlicher Begleit-Kommentar der Autoren hinzugefügt. Man kann sie auch gleich noch auf Kinderfotos betrachten und rätseln, ob ihnen das Bücherschreiben schon in die Wiege gelegt worden ist. Zum Glück sind es sehr normale Kindergesichter, in die man schaut. Manche von ihnen hatten offensichtlich eine fröhliche Kindheit, andere waren früh mit Problemen belastet - unterschiedlicher können Lebenswege, die zum Schreiben führen, kaum sein. Jedoch: Manch Häkchen hat sich schon recht früh gekrümmt.

Da hat der gerade mal zehnjährige Tilman Rammstedt im Jahre 1975 seinen ersten, (leider) unvollendet gebliebenen Roman verfasst. »Guten Morgen, Gangster« beginnt in Kapitel 1, »Schnellzug nach Dinard«, folgendermaßen: »Ein Mann im weißen Anzug, Sonnenbrille und dichten Augenbrauen.« Das war’s dann auch erst einmal. Ein gewisses Flair wird jedenfalls erzeugt, und vielleicht ist etwas davon in Rammstedts (vollendeten) Roman »Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters« eingeflossen.

Auch Jan Peter Bremer besann sich später beim Schreiben seines Romans »Der Fürst spricht« frühkindlicher Fantasien, denen zahlreiche Fürstengeschichten entsprangen. Das habe, meint Bremer, seine Mutter so kommentiert: »... kenn ich doch alles. Der hat doch immer nur Fürstengeschichten geschrieben.«

Alle Autoren und Autorinnen sind jetzt mitten drin im erfolgreichen Schreiben, viele mit Preisen bedacht. Marion Brasch (Jahrgag 1961) führt den Reigen an, fast gleichaltrig sind Gerhard Henschel und Peter Stamm. Die jüngste Autorin ist die Filmemacherin Helene Hegemann (Jahrgang 1993). Zu den Jüngeren gehört auch die in Baku geborene Olga Grjasnowa (Jahrgang 1984). Von ihr stammt der intensivste und sprachlich vollendetste Text mit dem Titel »Traumtänzer«. Sie schrieb ihn achtzehnjährig und versetzt sich darin zurück in die Stadt ihrer Kindheit, »die Stadt, an die ich mich wie an ein verstaubtes Märchen erinnere«. Der vierzehnjährige Saša Stanišic verfasste eine bittere Parabel auf den heraufziehenden Krieg in Jugoslawien mit dem Titel »Drei Wütende«.

Vorbehalte gegenüber einem Sammelband vieler kleiner Texte wischt man lesend schnell beiseite angesichts der Vielfalt von Persönlichkeiten und »Handschriften«, die hier in Tagebuchaufzeichnungen, Gedichten, Berichten und Fantasiegeschichten zum Ausdruck kommen, heiter, ernst, absurd, selbstbewusst oder fragend. Das Reizvolle ist das Unvollendete. Es sind Texte »aus einer noch unschuldigen Zeit« (Clemens J. Setz). Die großen Vorbilder waren damals für viele Rimbaud, Hemingway, Pessoa, Camus, Brecht und immer wieder Kafka. Saša Stanišic bringt es auf den Punkt: Seine »Wütenden« sei ein Text, »der vor lauter Kafka-Einfluss fast schon nach Brecht riecht«. Man könnte das Buch auch »Die Kafka-Erben« nennen.

Wenn ich groß bin, werd ich Dichter. Frühe Texte bekannter Autoren, herausgegeben von Florian Werner. Arche Literatur Verlag. 256 S., geb., 16,99 €.

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