Die Magie der Tropfen

»Über Wasser - Malerei und Fotografie von William Turner bis Olafur Eliasson« in Hamburg

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 3 Min.

In Bindfäden prasselt der Regenschauer 1857 auf Hiroshiges Farbholzschnitt »Plötzlicher Regenguss über der Shin-Ohashi-Brücke und Atake«. Japaner ducken sich unter ihren Strohhüten und Schirmchen, um dem elementaren Ungemach zu entgehen. Toni Schneiders, gebürtig vom Mittelrhein, der 1949 in Westdeutschland die Arbeitsgemeinschaft »freie fotografie« mitbegründete, ist ebenfalls fasziniert von der Magie der Tropfen und fokussiert sie im XL-Format. Ein spannendes Sujet waren seit dem 17. Jahrhundert Wasserfälle. Als herausragendes Landschaftsmoment gehören sie zu den bevorzugten Sehenswürdigkeiten in Gebirgen. Der künstlerischen Herausforderung, die überwältigende Macht der hinabstürzenden Massen wirklichkeitsgetreu zu erfassen, stellte sich etwa der aus Tirol stammende Joseph Anton Koch, der 1796 mit seinem »Wasserfall im Berner Oberland« gleichermaßen die Konventionen der heroischen Landschaftsdarstellung erfüllte. Nur wenige Jahre nach der Französischen Revolution sah Koch in dem stürzenden Gewässer ein Symbol für die umstürzende Kraft des Volkes.

Vermutlich ist Hiroshiges aufpeitschende »Große Welle vor Kanagawa« aus der Serie »Sechsundreißig Ansichten des Berges Fuji« (um 1830) die bekannteste Ikone aus der Wasserwelt. Doch zahlreiche Kollegen folgten ihm. Wie etwa die Doppelbegabung Victor Hugo, der recht symbolistisch 1867 einen enormen Wellenstrudel »Mein Schicksal« tauft. Legendär sind Courbets Brandungswogen, die er in etlichen Varianten festhielt. Geradezu idyllisch hebt sich dagegen Claude Monets sonnenüberflutete Ansicht des Meeres an der französischen Riviera bei Antibes ab.

Wie dichtete schon Goethe in seinem »Gesang der Geister über den Wassern«: »Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, Und wieder nieder, zur Erde muss es, ewig wechselnd.« Ja, dieses Element ist schon ein besonderer Saft. Die »Watt«-Fotografien von Alfred Ehrhardt und die schäumenden Nordseewellen des Meisters der Neuen Sachlichkeit, Albert Renger-Patzsch, gelten als Meilensteine der Lichtbildkunst. Gerhard Richters »Seestück« von 1969 darf selbstverständlich auch nicht fehlen.

Ein großer Reiz von Wasseransichten resultiert aus den vielfältigen Spiegelungen. Ein vielfach reproduziertes Highlight stellt hier Karl Wilhelm Diefenbachs »Blaue Grotte auf Capri« von 1902 dar: Die magische Imagination lockte nicht allein deutsche Reisende an die Amalfiküste. Sasha Stone schneidet 1929 einen im Regen flanierenden Herrn in Trenchcoat auf dem Kudamm abrupt ab: Die Spiegelung der witzigen Oldtimer und die Pfützen sind das Hauptthema.

Ein Kuriosum der Extraklasse sind William Turners »Reflexionen auf einer einzelnen polierten Metallkugel und einem Paar polierter Metallkugeln« von 1810, die aus der Londoner Tate nach Hamburg gelangt sind. Der britische Maler spielt damit auf eine seit der Renaissance bestehende Vorstellung des Traktats von Salomon de Caus aus dem Jahre 1612 an. Bei Turner lösten sich das sphärisch gespiegelte Fenster und seine Manipulation durch Reflexion auf einer benachbarten Kugel vom eindimensionalen Sehstrahl. Er verabschiedete damit die Linearperspektive zugunsten einer durch Reflexion verursachten Polyperspektivität. Die mit Wassern gefüllten Kugeln zerstreuen das farbige Licht auf eine Weise, die nicht mehr experimentell zu kontrollieren ist. Farbiges, polyperspektivisches Reflexlicht veränderte Turners Malweise und führte in den 1820er Jahren zur Praxis der »colour beginnings« - der Geburt der abstrakten Malerei.

Ein besonders interessanter Aspekt widmet sich dem Thema »Mensch und Wasser«. Gibt noch Max Klinger in seiner Radierung »Der Untergang« eine Ertrinkende in düsterer Meereslandschaft wieder - eine Art Orphelia des 19. Jahrhunderts -, so vermittelt David Hockney in seinen berühmten Pool-Bildern so ziemlich das Gegenteil: nämlich größtmögliche Schwerelosigkeit.

Befremdlich dagegen sind die Aufnahmen von Martin Paar, der in seiner Arbeit »Ocean Dome« von 1996 aus dem japanischen Miyazaki scheinbar einen sommerlichen Tag am Strand dokumentiert. Beim zweiten Blick wird dem Betrachter jedoch schnell die Künstlichkeit der Szene deutlich. Die Kulissen weisen auf die gigantische Badehalle hin, die sich in Asien wie in Ostdeutschland als Teil des globalen Phänomens der Freizeitindustrie etabliert hat - und ein Urlaubsambiente unter Palmen simuliert.

Die Ausstellung ist bis zum 27. September im Hamburger Bucerius Kunst Forum zu sehen. Der Katalog, erschienen im Hirmer Verlag, kostet 29 Euro.

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