Nicht Tsipras - die Linke erhält eine zweite Chance
Ein Beitrag von Luise Neuhaus-Wartenberg und Dominic Heilig zum Wahlergebnis von SYRIZA und zur Europa-Debatte der Linken
Es war eine Klatsche für Demoskopen und Regierungspolitiker*innen der europäischen Zentren gleichermaßen. Aus dem prognostizierten »Kopf-an-Kopf«-Rennen zwischen dem Linksbündnis Syriza und der mit der alten Oligarchie eng verwobenen konservativen Nea Dimokratia (ND) um die Führung der kommenden griechischen Regierung ist Nichts geworden. Das Wahlergebnis des bereits dritten Urnenganges in diesem Jahr ist ein Spiegelbild des Wahlergebnisses vom 25. Januar 2015. Syriza wurde mit Abstand zur stärksten politischen Kraft im Vouli, der hellenischen Nationalversammlung. 35,5 Prozent der zur Wahl mobilisierten Stimmberechtigten votierten für Alexis Tsipras und sein Linkspartei. Erneut erhielt die griechische Linke die meisten Stimmen unter den Jungwähler*innen des Landes. Auf Platz zwei folgt der Linken wie schon im Januar die konservative Nea Dimokratia, mit nur knapp über 28 Prozent der Stimmen.
Nur die Wenigsten in Europa, auch in der Europäischen Linken haben mit diesem deutlichen Ergebnis für Syriza gerechnet, wenngleich nicht übersehen werden darf, dass die Linkspartei rund 300.000 Stimmen gegenüber dem Januar-Resultat einbüßen musste. Der Großteil dieser absoluten Stimmenverluste ist der um knapp acht Prozent gesunkenen Wahlbeteiligung geschuldet.
Stimmengewirr in Europa
Die vielfältigen Stimmlagen der Gratulationen Richtung Athen sind aber nicht nur dem überraschenden Wahlergebnis von Alexis Tsipras geschuldet, sondern schlicht der Tatsache, dass die Linke es allen zum Trotz wieder gepackt hat. In den Kanon der diplomatischen Noten mischt sich daher allerlei Verlogenheit - am deutlichsten erkennbar in den Twitterperlen des Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz (SPD). Dieser hatte in den vergangenen acht Monaten nicht nur keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die erste linksgeführte Regierung in der Geschichte der Europäischen Union gemacht. Er hat diese auch aktiv durch persönliche und institutionelle Interventionen bekämpft.
Doch auch in der Europäischen Linken sind die Stimm(ungs)lagen höchst unterschiedlich. Auch in unserer Partei, der Partei DIE LINKE. Manch öffentlicher Kommentar zum Wahlausgang in Griechenland liest sich, als sei am vergangenen Sonntag das Schlimmste geschehen, was man den Griech*innen nur wünschen konnte. Wir reiben uns die Augen, trauen unseren Ohren nicht.
Einige Wortmeldungen von Genoss*innen ließen gar, satirisch kommentiert, den Schluss zu, mit einem Wahlsieg der konservativen Nea Dimokratia sähe die Zukunft der Griech*innen nur halb so schwarz aus.
Und so beginnt (erneut) ein Mechanismus zu wirken, der bereits nach dem Wahlerfolg unserer griechischen Schwesterpartei in der LINKEN zu beobachten war. Dieser zeichnet sich durch eine überbordende und wenig hilfreiche, nennen wir es »Empathie« aus. So werden bspw. aktuell Einschätzungen zu der Frage, ob Syriza denn überhaupt noch lebensfähig sei, hin und her gewälzt. Ob die Partei nicht bereits Erosionsprozessen unterworfen sei, also faktisch nur noch ein »Ein-Mann-Wahlverein« sei, der keinerlei Verbindung mehr zur Bevölkerung des Landes haben würde, wird gefragt. Stellen mag sie zwar niemand, doch schließt sich an diese Frage unweigerlich die nächste an: Ist der griechische Wähler, ist die griechische Wählerin also auf ein Trugbild in der späten Septembersonne hereingefallen?
Parallel dazu ist in Teilen der deutschen LINKEN seit spätestens Montag eine Debatte über die Frage vom Zaun gebrochen worden, ob es denn richtig war, sich auch bei diesem dritten Wahlgang mit unserer EL-Schwesterpartei, immerhin einer Gründungspartei der Europäischen Linken (EL), erneut zu solidarisieren und deren Spitzenkandidaten Alexis Tsipras, der noch vor einem Jahr unser aller Held und vor einem Jahr unser aller Kandidat für die Wahl des Europäischen Kommissionspräsidenten war, zu unterstützen. Der Chef der LINKE-Bundestagsfraktion, Dr. Gregor Gysi wird mancherorts dafür, dass er in Athen gemeinsam mit Pierre Laurent (Vorsitzender der EL, PCF) und Pablo Iglesias (PODEMOS) auf der Syriza-Wahlkampfabschlusskundgebung zur Wahl des Linksbündnisses aufrief, nun kritisiert.
Erklärungen von Links erblicken das Licht eines nur vermeintlich progressiven politischen Diskurses, die entweder einen Wahlsieg der Syriza-Abspaltung »Linke Volksunion« (LAE) sehen wollen - wäre der »Wahlkampf nur noch zwei Wochen länger gelaufen« - oder chauvinistisch-deutsch den griechischen Wähler einen schwerwiegenden Fehler vorwerfen. Prompt kommen Forderungen auf die Tagesordnung, die Kontakte zu LAE auszubauen, ohne auch nur ein Wort mit den Genoss*innen von Syriza und LAE gleichermaßen darüber gewechselt zu haben. Pappkameraden sind geschnitzt, hier die guten, dort die schlechten Linken.
Andere Partei-Stimmen fordern, den sogenannten »Plan B« des Parti de Gauche - Politikers Jean-Luc Mélenchon auf die Tagesordnung der Europäischen wie deutschen Linken zu heben, schließlich besäße dieser den Segen namhafter Genossen, unter ihnen die Ex-Finanzminister Varoufakis und Lafontaine. Gemeinhin wird dieser Plan B als linker Grexit oder besser, als linker Euxit verstanden. Das ursprüngliche Papier aber lässt eine solche Interpretation nur schwer zu. Varoufakis hat zwar am Start der Debatte zu dem B-Papier teilgenommen, gilt selbst aber nicht als Verfechter eines Grexit. Was also Inhalt und Ziel dieser B-Debatte sein sollen, die derzeit recht unbestimmt daher kommt, ist individuellen Interpretationen überlassen.
Wieder andere in unserer Partei lasten allein unserer griechischen Schwesterpartei die auf einen dramatischen Tiefststand gefallene Wahlbeteiligung an. Ihnen ist der Blick in ostdeutsche Bundesländer an Landtagswahlsonntagen augenscheinlich zu weit. Oder fällt nur uns auf, dass auch dort – aus dem Gefühl heraus kaum etwas mit einer Wahlentscheidung entscheiden zu können – ebenso wenige Menschen wie in Griechenland in die Wahlkabine treten? Sind es nur wir, denen auffällt, dass dieselben Mechanismen und Politiker*innen dafür in Griechenland wie z.B. in Sachsen-Anhalt verantwortlich sind?
DIE LINKE in der strategischen Falle
Die unübersehbare Lust von Teilen unserer Partei Noten und Ratschläge zu erteilen, es immer schon besser gewusst zu haben, bricht sich seit dem ersten Wahlerfolg unserer griechischen Genoss*innen im Januar immer wieder bahn. Seit dem Juli diesen Jahres ist zudem in manchen Teilen eine zunehmende Entsolidarisierung Richtung Athen zu beobachten gewesen. Schnell war es vorüber mit der eigentümlichen und doch irgendwie sympathischen Tatsache, dass auch Linke in der Lage sind, einmal für und nicht nur gegen eine Regierung auf die Straßen zu gehen.
Die Entsolidarisierung mit Syriza, die seit dem vergangenen Sonntag noch offener zutage tritt, kündigte sich schon in dem rauschenden Schweigen vieler Linker vor den nun abgehaltenen vorgezogenen Neuwahlen an. Diesem Schweigen verschrieben sich freilich nicht alle in unserer Partei. Viele haben für die Wahl von Alexis Tsipras und Syriza geworben, erneut ihre Solidarität bekundet. Die Euphorie der Anfangswochen im Frühjahr 2015 war aber trotz alledem längst verschwunden. Wer aber ernsthaft glaubte, eine Linksregierung wäre in der Lage es mit allen anderen in der Eurogruppe gleichzeitig aufzunehmen, der irrte bereits im Frühling.
Von den meisten Solidaritätserklärungen für unsere Schwesterpartei in Griechenland blieb irgendwann nur ein müdes Abarbeiten an vermeintlichen oder tatsächlichen Fehlleistungen der Athener Regierung. Mit zunehmenden Abstand wurde dieses von wenigen auch in Worte wie »Verrat« oder »Betrug« gekleidet.
Nun, nach dem 20. September wird diese Art der »Debatte« – wie oben beschrieben – beinahe unverändert fortgesetzt. Schlussfolgerungen aus den vergangenen acht Monaten für die Europäische Linke und die deutsche LINKE werden in unserer Partei leider von (noch) zu wenigen gezogen. Mehr noch: Das Abarbeiten an Syriza dient letztlich vielen als Folie für eine rein deutsche, sprich: innerparteiliche Auseinandersetzung. Debatten über unsere eigenen Fehleinschätzungen werden hingegen nicht geführt. Alexis Tsipras und Syriza werden so unfreiwillig und schuldlos für eine innerparteiliche Debatte über die Frage »Wie hältst du es mit dem Regieren?« missbraucht. Hinreichende Unterscheidungen zwischen den Realitäten in Berlin und Athen werden nicht gemacht. Damit aber – sollte dieser Zustand sich bei uns verfestigen - manövriert sich DIE LINKE in eine strategische Falle.
Aktuell wird wieder über eine Auflösung der europäischen Gemeinschaftswährung fabuliert – beginnend mit Griechenland – und dabei ignoriert, dass die griechischen Wähler*innen zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit eine Rückkehr zur Drachme (addiert man die Stimmen von KKE, LAE und Goldener Morgenröte) deutlich abgelehnt haben. Und es war erneut die griechische Jugend, die sich auf dem Syntagma und damit eben politisch positionierte und für eine europäische Zukunft skandierte.
Anstatt über die Folgen der Spaltung der Linken in Griechenland und womöglich im Nachgang in der Europäischen Linken nachzudenken und alle Kraft darauf zu verwenden, diese (europäisch) aufzuhalten oder gar (griechisch) umzukehren, wird ein sogenannter Plan B auf ein Schild gehoben, ohne je einen Plan A authentisch angegangen zu sein. Dieser A-Plan hätte darin bestehen müssen, die Europäische Linke aus ihrer Passivität, aus ihrer »Zuschauersolidarität« zu führen und die Inhalte auf die Tagesordnung zu setzen, die Syriza bereits im Januar benannt hatte: Die Demokratisierung und damit die Umgestaltung der Europas. Oder um es mit den Worten der deutschen LINKEN zu sagen: Auftreten statt Austreten!
Wenn in den vergangen acht Monaten deutlich geworden ist, dass eine Linksregierung noch keinen »europäischen roten Frühling« macht, wäre es dann nicht spätestens jetzt an der Zeit darüber nachzudenken und Strategien zu entwickeln, wie es zu zwei, drei vielen Linksregierungen kommen kann? Was folgt aus der richtigen Forderung die Regierung Merkel abzulösen eigentlich konkret? Und warum drückt sich DIE LINKE darum, diese Frage zu bearbeiten, was Voraussetzung für die Umsetzung der Forderung wäre?
Nach dem Wahlerfolg von Syriza, der mit vielen Schmerzen und auch Verlusten errungen wurde, formulierten wir: »Wir verbinden mit dem heutigen Ergebnis die Hoffnung, dass die Linke in Griechenland und in Europa wieder zusammen findet und gemeinsam den Kampf für Demokratie und soziale Gerechtigkeit aufnimmt.«
Plan EL
Aus unserer Sicht ist es notwendig sich nun daran zu machen, einen Plan E (für Europa) und einen Plan L (für die Linke) – zusammen EL – zu entwickeln. Denn deutlich ist doch am vergangenen Sonntag einmal mehr geworden:
Die Spaltung der Linken schwächt diese nur. Die Sammlungsbewegungen der politischen Linken im vergangenen Jahrzehnt europaweit waren die richtige Antwort darauf. Wir bedauern, dass es (vorerst) nicht gelungen ist, das linke Sammlungsprojekt Syriza zusammenzuhalten und dass nun namhafte und wichtige Personen, die sich in LAE oder anderen Gruppierungen organisiert haben, den Diskurs innerhalb von Syriza und dem griechischen Parlament nicht mehr bereichern können. Wir bleiben aber gleichzeitig davon überzeugt, dass Syriza weiter für die Bürger*innen in Griechenland und Europa kämpfen und linke Politik machen wird. Für uns gibt es daher auch keinen Grund, die Spaltung der griechischen Genoss*innen nun zum Ausgangspunkt einer Aufspaltung der Linken in Europa und eines überflüssigen Streits innerhalb unserer eigenen Partei zu machen. Wir als Linkspartei in Europa sollten uns im Gegenteil für das weitere Zusammenwachsen der Linken einsetzen und Ideen für die weitere Evolution der Linken (Plan L) sammeln und auf die Tagesordnung setzen.
Wir als DIE LINKE sollten uns für einen neuen, alternativen europäischen Diskurs zur Umgestaltung der europäischen Gemeinschaft (Plan E), gerade auch angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation stark machen, anstatt uns aus diesem heraus zu katapultieren.
Nicht Alexis Tsipras hat also eine zweite Chance bekommen, sondern die Linke in Europa. Die nächsten Haltestellen auf diesem Weg kündigen sich bereits an. Sie liegen in Lissabon und Madrid und im kommenden Jahr auch in den Wählkämpfen unserer Partei.
Luise Neuhaus-Wartenberg und Dominic Heilig sind Bundessprecher*innen des forum demokratischer sozialismus (fds)
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