»Wir hießen eben Amateure«
Folge 75 der nd-Serie »Ostkurve«: Der Fußball als kapitalistische Leistungsinsel in der DDR
In Halle ist Klaus Urbanczyk eine Legende. Für den SC Chemie und den späteren HFC Chemie spielte er bis 1972 14 Jahre lang. Mit ihm hatte der Klub seine erfolgreichste Zeit in der DDR-Oberliga. Auch später als HFC-Trainer gelangen ihm gute Ergebnisse. Berühmt und beliebt war er während seiner aktiven Zeit in der ganzen Republik. Der 34-malige Nationalspieler wurde 1964 zum Sportler des Jahres in der DDR gewählt. Dies gelang keinem Fußballer vor und nach ihm. Als Scout arbeitet der 75-Jährige noch heute für seinen Verein.
Auf sein Leben als Fußballer in der DDR blickt er nach der Wende zurück: »Einmal war ich in der Braunkohle in Merseburg, einmal im Karosseriewerk Halle und so weiter. Aber es war ja im Prinzip wurscht, wo wir angestellt waren. Arbeiten gegangen sind wir ja nie. Wir haben am Tag zwei- bis dreimal trainiert, da blieb dafür gar keine Zeit. Wir waren zwar in den Betrieben angestellt, aber der DTSB in Berlin zahlte denen den Personalausfall. Es gab ja offiziell keine Profis in der DDR, dabei haben wir nichts anderes gemacht, als täglich professionell trainiert. Aber wir hießen eben Amateure.«
Gänzlich anders sah das von der Sport- und Parteiführung propagierte Bild der DDR-Wirklichkeit aus. Aus ideologischen und politischen Gründen wurde bis zum Ende der 80er Jahre behauptet, dass der Leistungssport dieses kleinen Landes von Amateuren ausgeübt werde. Die Sportler würden genauso wie alle anderen Bürger einer regelmäßigen Arbeit nachgehen und daher in den Trägerbetrieben der Sport- und Fußballclubs - heutzutage würde man von Sponsoren sprechen - angestellt sein. Der Sport war offiziell Nebensache und das wurde immer wieder propagandistisch verkündet. Als beispielsweise im Jahre 1970 der Jenaer Spieler Roland Ducke zur Wahl des »Silbernen Fußballschuh« nominiert war, wurde in der regionale Presse Mechaniker als sein Beruf angegeben. Sportliche Leistungen sollten allein zum Wohle des sozialistischen Vaterlands DDR und »für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern« erbracht werden.
Das Beispiel von Klaus Urbanczyk und dem HFC Chemie ist nur eines von vielen. Schon seit den 60er Jahren war der Oberligafußball an vielen Standorten zur kapitalistischen Leistungsinsel im Sozialismus geworden. Vorbild war dabei der FC Carl Zeiss Jena. Dort wurde der DDR-Fußball zuerst professionalisiert - auf trainingswissenschaftlichem und finanziell-materiellem Gebiet. Die Jenaer waren die Pioniere in der systematischen Bezahlung und Privilegierung ihrer Spieler. Seit Ende der 50er Jahre waren alle Spieler des SC Motor Jena Vollprofis.
Mit der 1957 erfolgten Berufung Georg Buschners als neuem Jenaer Trainer war es dort zu einem Paradigmenwechsel gekommen. Der VEB Carl Zeiss war der Trägerbetrieb des damaligen SC Motor Jena - später auch des 1966 gegründeten FC Carl Zeiss Jena - und sicherte von nun an umfangreiche finanzielle, materielle und soziale Hilfen zu. Paul Dern, langjähriger Assistent von Georg Buschner, hat dies einmal so begründet: »Wir hatten immer die Erkenntnis, dass wir als Territorium zu klein sind. Nur aus unserem Umfeld heraus können wir uns nicht in der Spitze halten, wir müssen jedes Jahr zwei gute Leute neu integrieren. Die Richtigen heraussuchen, versuchen die zu bekommen und das kontinuierlich. Das haben wir auch gemacht.« Jena gelang es, eigene Spitzenspieler zu halten und andere von Oberligakonkurrenten zu locken, beispielsweise 1966 Wolfgang Blochwitz aus Magdeburg, Helmut Stein aus Halle, 1968 Harald Irmscher aus Zwickau, Eberhard Vogel aus Karl-Marx-Stadt, 1976 Rüdiger Schnuphase und 1977 Lutz Lindemann aus Erfurt.
In Jena wurde damit begonnen, den Spielern ein umfangreiches System allseitiger Fürsorge nach heutigem Standard zu bieten. Sie, und auch die leitenden Funktionäre, wurden finanziell privilegiert: Es gab hohe Erfolgsprämien vom Verein, hohe Handgelder für einen Vereinswechsel oder den Verbleib beim Klub, über das Zeisswerk hohe Löhne und teilweise in bar ausgezahlte zweite Gehälter. Auch materiell wurden die Leistungsträger oder die gewünschten Spieler privilegiert. Alles, was in der DDR selten und schwer zu erwerben war, wurde als Lock- oder Bindemittel organisiert und angeboten: Wohnungen, Häuser der Carl Zeiss Stiftung, hochwertige Konsumgüter wie Autos, Fernseher, Kühlschränke, Waschmaschinen, Telefone und vieles mehr.
Da die Betriebe in der DDR immer auch umfangreiche soziale Leistungen für ihre Arbeiter und Angestellten bereit hielten, wurde auch diese Ressource genutzt. So wurden beim VEB Carl Zeiss nicht nur alle Fußballer von ihrer Arbeitspflicht befreit. Wenn Spieler nach Jena wechseln sollten, lockte der Trägerbetrieb teilweise mit der Anstellung ihrer Ehefrauen oder gar der Eltern. In den Sozialeinrichtungen des VEB Carl Zeiss wurden Spieler und Funktionäre bevorzugt. Sie erhielten beispielsweise schneller Plätze in den betriebseigenen Kinderkrippen und Kindergärten, in den Ferienheimen und Ferienlagern an der Ostsee oder im Thüringer Wald.
Mit einiger Verzögerung wurde das Jenaer System auch bei den anderen Oberligavereinen kopiert, meist auch mit Hilfe der lokalen wie regionalen Wirtschafts- und Politikfunktionäre. Beim FC Rot-Weiß Erfurt, der lange Zeit besonders unter den Abgängen seiner besten Spieler zu leiden hatte, dauerte es etwas länger. Erst Ende der 70er Jahre wurde ein ähnliches System installiert. So berichtet Jürgen Heun, der dort von 1976 bis 1991 stürmte: »Ich habe ausgelernt und bin dann gleich den nächsten Tag zu Umformtechnik (einer der damaligen Trägerbetriebe des Klubs, Anm. d. Red.) gekommen. Das hat Rot-Weiß so festgelegt. … Dort habe ich meinen Spind gekriegt, meinen Blaumann, Arbeitsschutzhandschuhe. Ich habe meinen Spind gleich wieder geschlossen, dann dort 13 Jahre nicht mehr gearbeitet, habe aber von denen das Geld gekriegt.« Als der FC Carl Zeiss ihn Anfang der 80er Jahre nach Jena holen wollte, hat Heun dies clever ausgenutzt: »Da habe ich zu Karl-Heinz Friedrich (Erfurter Klubvorsitzender, Anm. d. Red.] gesagt, dass ich eine neue Wohnung, ein neues Auto und ein Telefon brauche, weil ich damals umgezogen bin. Das war innerhalb von ein oder zwei Tagen alles da. Und da habe ich dann abgelehnt in Jena.«
Die grundlegende Struktur des Sports wurde mit der 1948 erfolgten »Reorganisation des Sports auf Produktionsebene« festgelegt. Sowohl die Logistik als auch die finanzielle Ausstattung des Betriebssports wurde durch betriebliche Gewerkschaftsgruppen getragen. Mit der Bildung von zentralen Sportvereinigungen 1950 versuchte die Sportführung, das System zu optimieren. Aber auch hier kam es bereits vielfach zu Eigenmächtigkeiten: Nicht der maximale sportliche Erfolg für die DDR war für viele Fußballfunktionäre entscheidend, sondern der maximale sportliche Erfolg der eigenen Mannschaften ihrer Sportvereinigung.
Ab Mitte der 50er Jahre gab es in Berlin ein bis zum Ende der DDR geheim gehaltenes »Büro zur Förderung des Sport in den Betrieben«. Eine zentrale Aufgabe dieses Büros war die Refinanzierung der von den Trägerbetrieben für die Scheinarbeitsverhältnisse ausgegebenen Löhne und Gehälter. Entgegen allen offiziellen Verlautbarungen finanzierte die DDR damit also Profitum im Sport und eben auch im Fußball. Wie Manfred Ewald, Präsident des DTSB von 1961 bis 1988, kurz nach der Wende beschrieb, waren die 1965 und 1966 erfolgten Gründungen der Fußballclubs eine Reaktion auf die aus dem Ruder gelaufene Finanzierung der Sportclubs. Ein Großteil des Geldes aus Berlin wurde vor Ort eigenmächtig in die Fußballsektionen gesteckt, die anderen Sportarten kamen dabei zu kurz. Die neuen Fußballclubs sollten nunmehr durch die Trägerbetriebe vollständig finanziert und ausgestattet werden.
Da die meisten Fußballer auch damals schon gewinnorientiert dachten, war es für jeden Verein wichtig, den besten Spielern umfangreiche materielle, finanzielle und soziale Privilegien zu bieten. In der Folge kam es zu einer ungehemmten Wettbewerbssituation zwischen den Trägerbetrieben um »ihre« Oberligamannschaften. Einige bauten auf eine Werbewirkung. So offenbarte Ende der 60er Jahre Erich Kobbelt, der damalige Vorsitzende der BSG Chemie Leipzig und Generaldirektor der VVB Gummi und Asbest, dass er einen Stadionneubau und die Umbenennung der BSG in FC Pneumant Leipzig plane.
Das alles blieb auf oberster politischer Ebene nicht unbeobachtet. So schrieb der DTSB an das ZK der SED im Januar 1969: »Im Inneren aber hielten sich eine Reihe großer Betriebe bzw. Kombinate nicht an die bereits sehr weitgehenden und großzügigen Festlegungen für die Fußballer, sondern verletzten gegen den Widerstand des Fußball-Verbandes diese Richtlinien und führten mit Hilfe weitgehender finanzieller Zusicherungen an einige Fußballer verschiedene Spielerziehungen und Abwerbungen durch. Dies wiederum veranlasste andere Betriebe, die die Spieler halten wollten, ihrerseits neue Zugeständnisse an diese zu machen.«
Als Warnschuss für alle Funktionäre der Fußballclubs kann die Bestrafung der ambitionierten BSG Stahl Eisenhüttenstadt verstanden werden. Mit massiver Hilfe des Stahlwerkes wurde dort versucht, den Wiederaufstieg in die Oberliga zu erreichen. Eduard Geyer berichtete unlängst, wie er ein Angebot bekam, das ein deutlich höheres Gehalt, einen geschenkten Trabant und 10 000 Mark Handgeld vorsah. Im September 1970 griff der DTSB durch: Die BSG Stahl wurde in die drittklassige Bezirksliga zurückgestuft, Spieler und Funktionäre wurden gesperrt oder ihrer Ämter enthoben.
Der Leistungssportbeschluss von 1969/70 mit seiner Trennung in den weiterhin geförderten Sport I und den restlichen Sport II-Bereich war auch für den Fußball relevant, denn nun wurde die Finanzhoheit wieder an den DTSB zurück delegiert. Von nun an sollte der Sportdachverband die Finanzen der Fußballclubs kontrollieren und streng auf die Einhaltung der nach Qualifikation zu erfolgenden Einstellungen der Spieler bei ihren Trägerbetrieben geachtet werden. Aber auch jetzt ließen sich schwarze Kassen und umfangreiche Vergünstigungen nicht eindämmen. Das Grundproblem der Bindung des Sports an die Betriebe blieb bis zum Ende der DDR bestehen: Der DTSB hatte keinen Einblick in die Bücher der Betriebe und diese agierten oft nicht so, wie es die Sport- und Parteiführung verlangte.
Mitte der 70er Jahre erreichten die Konzentrationsbemühungen des DTSB und des DFV ihren Höhepunkt. Die Schwerpunktclubs BFC Dynamo, Dynamo Dresden, 1. FC Magdeburg, 1. FC Lok Leipzig, FC Vorwärts Frankfurt und FC Carl Zeiss Jena wurden gegenüber den anderen Fußballclubs FC Hansa Rostock, HFC Chemie, FC Karl-Marx-Stadt, 1. FC Union Berlin und FC Rot-Weiß Erfurt sowie den BSG privilegiert. Aber auch danach hielt es die lokalen und regionalen Sport- und eben auch Parteifunktionäre nicht davon ab, diese zentralen Vorgaben vielfach zu unterlaufen. Mit dem Wegfall des Schwerpunktclubsystems 1983 und dem damit verbundenen Erstarken großer Betriebssportgemeinschaften wie der BSG Stahl Brandenburg oder der BSG Wismut Aue resignierte der DTSB vor dem »Fußball-Lokalpatriotismus versus Parteiräson«, wie es der Sporthistoriker Hans-Joachim Teichler ausdrückt. Oder war es eine absichtliche Entscheidung der SED-Spitze, den Bezirksfürsten ihre Spielwiese zu überlassen?
Dass den Sport-, Partei- und Wirtschaftsfunktionären vor Ort dabei das Unrechtsbewusstsein abhanden gekommen war und ihnen nicht immer klar war, dass sie massiv Gewerkschaftsgelder veruntreuten, zeigt sich in der Aussage eines ehemaligen Funktionärs des FC Rot-Weiß Erfurt: »Es war halblegales Geld. Es war kein offizielles Geld, aber es war auch nicht illegal, weil ein paar verantwortliche Leute, die die DDR repräsentiert hatten, mit involviert waren. Diese Bezirkssekretäre, diese Generaldirektoren und, und, und. Demzufolge war es nicht illegal, aber legales Geld im eigentlichen Sinne war es nicht.«
Michael Kummer (41) ist promovierter Historiker, lebt in Erfurt und geht seit Mitte der 80er Jahre zum FC Rot-Weiß.
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