107 Jahre Sehnsucht
Das Baseballteam der Chicago Cubs will die längste titellose Zeit der US-Sporthistorie und einen Fluch überwinden
Steve Bartman war einst nicht besonders beliebt bei Fans der Chicago Cubs. Sie bewarfen den armen Mann am 14. Oktober 2003 gar mit Bierbechern. Dabei hatte er nur versucht, einen Ball zu fangen, der ohnehin im Aus gelandet wäre, so wie es jeder andere Baseballfan auch gern macht. Bartman hatte jedoch Cubs-Spieler Moises Alou übersehen, der in die Zuschauerränge griff und den Ball ohne Bartmans Einmischung gefangen hätte. Der gegnerische Schlagmann Luis Castillo von den Florida Marlins wäre raus gewesen, hätte nicht mehr schlagen dürfen. Vier weitere Gegner hätten die Cubs, die 3:0 in Führung lagen, noch überstehen müssen, dann wären sie erstmals seit 1945 wieder ins Finale der Major League Baseball (MLB) eingezogen. So jedoch nahm das Unglück seinen Lauf. Castillo und weitere sieben Marlins-Spieler punkteten, die Cubs verloren das Spiel 3:8 und schieden wieder einmal aus.
Die Chicago Cubs sind der älteste noch immer am Ursprungsort spielende Profisportklub in den USA. Ihre Heimstätte ist legendär. Jeder Fan will einmal im Wrigley Field gewesen sein, jenem Stadion, dessen Tribünen noch auf Holzkonstruktionen fußten, als fast alle anderen schon in moderne Betonbauten umgewandelt worden waren. Wer kein Ticket für die stets ausverkaufte Arena ergattert, kauft sich eins für die andere Seite der Waveland Street. Dort haben Hausbesitzer Tribünen auf ihre Dächer gebaut, von denen aus man ins Stadion hineinschauen kann. Auch die Gerüste des Wrigley Fields sind in diesem Frühjahr restauriert worden. Zumindest der Charme der mit Efeu behangenen Backsteinwände am Spielfeldrand ist aber erhalten geblieben.
Bei aller Tradition sind die Chicago Cubs aber auch der Inbegriff des Verliererteams. Mittlerweile rennen sie schon ganze 107 Jahre ihrem dritten Titel nach 1907 und 1908 in der World Series, dem MLB-Finale, hinterher. Es gibt keine ähnlich lange Pechsträhne in den vier großen US-Profiligen, wahrscheinlich auch keine anderswo. Die Stadtrivalen der White Sox beendeten 2005 ihre eigene Durststrecke nach 87 Jahren. Die nach den Cubs derzeit zweitlängste aktive ist die der Cleveland Indians, auch ein Baseballteam, mit gerade mal 67 Jahren Warterei.
Doch vielleicht ist 2015 endlich Schluss, denn die Cubs haben zum ersten Mal seit 2008 die Playoffs erreicht und dort bislang überaus erfolgreich. In ihren Reihen spielt mit Jake Arrieta der beste Werfer der Liga. Zudem ist der neue Trainer Joe Maddon sehr erfahren. Wieder einmal lebt die Hoffnung, dass das Ende des »Billy Goat«-Fluchs erreicht sein könnte, den Fans seit 1945 immer wieder für die Misere verantwortlich machen. Damals standen die Cubs letztmals im Finale. Und Billy Sianis, Inhaber der »Billy Goat Taverne«, wurde aus dem Stadion geschmissen, da der Geruch seiner mitgebrachten Hausziege andere Fans belästigt haben soll. Aufgebracht schrie er: »Diese Cubs, die werden nie mehr gewinnen!« Bis heute behielt der Mann Recht.
Mit solchem Aberglauben befasst sich Joe Maddon freilich nicht. Ganz im Gegenteil sorgt er seit seiner Verpflichtung im Winter dafür, dass die Cubs lockerer mit ihrem Schicksal umgehen. Vor einem Monat lud er zur abwechslungsreicheren Spielvorbereitung einfach mal den Columbus Zoo ein - samt Schneeleopard, Pinguinen und Flamingos. Die Spieler brachten ihre Kinder mit ins Wrigley Field, hatten einen schönen Vormittag und gewannen abends das Spiel. Eine Ziege war nicht dabei.
Maddon führte seine Mannschaft zu Beginn der Playoffs zum 4:0-Sieg im Wildcard-Spiel bei den Pittsburgh Pirates. Zuvor hatten die Cubs zwölf Jahre lang keine Playoff-Runde mehr überstanden. Meist waren sie ohnehin schon nach der Vorrunde ausgeschieden. Daher wollte Ben Larson das Spiel auch auf keinen Fall verpassen. Der Student der University of Illinois hätte am Donnerstag nach dem Spiel eigentlich eine Prüfung schreiben sollen, doch er bat seinen Professor um eine Verschiebung: »Ich habe Tickets für das Spiel in Pittsburgh, dort muss ich danach auch übernachten. Ich weiß, dass Sie sonst nie Prüfungen verschieben, aber ich hoffe auf einen weichen Kern in Ihnen, es geht schließlich um die Cubs.« Der Professor antwortete: »Bei keinem anderen Klub würde ich auch nur darüber nachdenken. Da das Universum den Cubs-Fans aber nur sehr wenige Playoff-Spiele schenkt, muss jedes ausgekostet werden.« Das Examen wurde erst am Freitag geschrieben.
Danach ging es in der Viertelfinalserie im Modus »best of five« gegen den Erzrivalen aus St. Louis. Die Cardinals, in diesem Jahr mit 100 Siegen das beste Team der Vorrunde, standen im krassen Gegensatz zu den Cubs allein in den vergangenen neun Jahren gleich dreimal im Finale und gewannen zwei davon. Die Cubs waren der klassische Underdog, den die Amerikaner so lieben, und doch gewannen sie die Serie mit 3:1 nach einem 0:1-Rückstand. Nie zuvor in der 145-jährigen Klubgeschichte, war es dem Team gelungen, eine Playoffserie im heimischen Wrigley Field zu gewinnen. Stundenlang wurde danach mit den Fans im Stadion gefeiert.
Der »Steve Bartman Vorfall« hat mittlerweile einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Ein anderer Cubs-Fan hatte kurz vor dem Playoff-Start eine Sammelaktion ins Leben gerufen. Er wollte Bartman für 5000 Dollar zum Spiel in Pittsburgh einfliegen lassen - quasi ein verspätetes Friedensangebot. Doch Bartman lehnte dankend ab. Er ist immer noch Fan des Klubs, ins Wrigley Field kam er jedoch seit seinem Unglücksgriff vor zwölf Jahren nie mehr. Er scheut die Öffentlichkeit, lehnte sogar sechsstellige Werbeangebote ab und spendete gesammeltes Geld stets an Diabetes- und Alzheimerstiftungen.
Den Ball von damals hatte zwei Monate nach dem Spiel der Restaurantkettenbesitzer Grant DePorter für 113 824 US-Dollar (101 000 Euro) ersteigert. In einem verzweifelt anmutenden Versuch, den Fluch endlich zu brechen, ließ er den Ball am 26. Februar 2004 sogar medienwirksam explodieren. Geholfen hat’s nicht. Bis jetzt jedenfalls.
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