Acht Wochen lang anstehen

Bis zu 57 Tage warten Asylsuchende auf erste Papiere / BVG plant Ticket für Flüchtlinge

  • Sarah Liebigt und Bernd Kammer
  • Lesedauer: 3 Min.
Rund 2000 Asylverfahren wurden in diesem Jahr bisher in Berlin registriert. Fast die Hälfte davon ist noch offen. Die Zustände vor der Erstaufnahmestelle sind nach wie vor katastrophal.

Am vergangenen Donnerstag erreichte ein weiterer Sonderzug mit Flüchtlingen den Flughafen-Bahnhof Berlin-Schönefeld. Mit dem Zug aus Salzburg wurden 392 Menschen erwartet, wie viele tatsächlich eintrafen, war laut einer Sprecherin der Sozialverwaltung zunächst nicht bekannt. Bis zum Sonntag erwartet die Senatsverwaltung weiterhin täglich einen Sonderzug. Vor der Erstaufnahmestelle des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) standen auch am Donnerstag lange Schlangen von Menschen.

Die Initiative »Moabit hilft«, die sich dort seit Wochen für die Geflüchteten engagiert, kritisierte erneut heftig die Zustände vor der Erstaufnahmestelle. Demnach seien es »entgegen aller Behauptungen und Mutmaßungen durch Politik und Medien« immer noch die Ehrenamtlichen, die vor Ort »organisieren, kochen, sortieren, behandeln, pflegen, bespaßen, informieren, betreuen, begleiten und trösten«. Die Strukturen des LAGeSo seien intern bereits zusammengebrochen. Tagtäglich kommen bis zu 500 in die Turmstraße 21, um sich registrieren zu lassen. In den ersten neun Monaten diesen Jahres wurden bereits 2019 Asylverfahren (Klagen und Eilverfahren) registriert. Davon waren laut Verwaltungsgericht bis zum 30. September noch 935 Fälle offen.

»Die verzweifelten, wartenden Menschen werden Tag für Tag immer verzweifelter und der Winter steht vor der Tür.« Nachweislich warten die Menschen vom Zeitpunkt des Anstellens für eine Nummer zur Registrierung bis zur Ausgabe der ersten Unterlagen bis zu 57 Tagen.

Auch das Problem der fehlenden professionellen staatlichen medizinischen Erstversorgung dauere an, sagte die Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt der SPD, Daniela Kaya, am Donnerstag. Die medizinische Erstversorgung erfolge noch immer ausschließlich durch ehrenamtliche Ärzte und Helfer. Trotz der dramatischen Zustände arbeiten weder Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU), noch seine Senatsgesundheitsverwaltung an einer Lösung für die fehlende medizinische Erstversorgung. Nun haben die Bezirke Czajas Aufgabe erledigt und ein Gesundheitskonzept erarbeitet.

Moabit hilft forderte den Senat erneut auf, zu einer Entschärfung der Lage vor dem LAGeSo beizutragen. Beispielsweise gebe es eine öffentlich einsehbare, täglich angepasste Bedarfsliste von dringend benötigten Gütern. »Weder LAGeSo noch Senat stellen irgendwelche Güter zur Verfügung«, so die Initiative. Geflüchtete warten tagelang auf Geldzahlungen der Leistungsabteilung, Verlängerung der Kostenübernahme oder auch Röntgen zur Tuberkuloseprävention. »All diese Menschen teilen sich das offene Gelände mit den täglich neu hinzukommenden Flüchtlingen.«

Ohne Geld ist es für die neu ankommenden Flüchtlinge auch schwer, sich in der Stadt zu bewegen. BVG und S-Bahn haben dem Senat bereits Mitte September eine Art »Welcome-Ticket« vorgeschlagen. »Eine Entscheidung hat es bis heute noch nicht gegeben«, so BVG-Sprecherin Petra Reetz. Die Verkehrsunternehmen erhoffen sich dadurch auch Rechtssicherheit für ihre Kontrolleure. Die sollen zwar mit Augenmaß vorgehen, könnten aber auch nicht einfach ein Auge zudrücken, wenn sie Flüchtlinge ohne Fahrschein antreffen, so Reetz. Der Preis für das Ticket soll wie beim Sozialticket, auf das erst anerkannte Asylbewerber einen Anspruch haben, bei 36 Euro liegen. Die Verkehrsunternehmen können sich vorstellen, dass das Land dafür die Kosten übernimmt, indem es auf auf Strafzahlungen für nichterbrachte Verkehrsleistungen verzichtet.

Die beteiligten Senatsverwaltungen hielten sich bedeckt. »Wir sind an einer Lösung interessiert«, sagte der Sprecher von Verkehrssenator Andreas Geisel (SPD), Martin Pallgen. Die Senatssozialverwaltung verwies auf »intensive Gespräche« der Staatssekretäre, »um schnell zu einer Lösung zu kommen.«

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