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Die durch den Rost fallen
Daniel Gäsche berichtet über Illegale und barmherzige Samariter
Man könnte denken, es ist eine Werbebroschüre für die immer ausgedünnteren deutschen Kirchen, sowohl die katholischen wie evangelischen. Diese kümmern sich, wie man hier erfährt, schon lange um Illegale, oder wie man im romanischen Raum sagt, um die »sans papiers« (französisch) oder sin papeles (spanisch).
Daniel Gäsche: Eingereist und abgetaucht. Illegal in Deutschland.
Militzke. 224 S., br., 14,90 €.
Daniel Gäsche berichtet mit großer Bewunderung von einer Wohngemeinschaft, die es in Berlin seit 1984 gibt und die ein nicht mehr ganz so junger Jesuitenpater leitet: Christian Herwartz. Er wohnt in einem Haus in der Naunynstraße in Kreuzberg. Am Klingelschild steht »WG Herwartz«. Bis Januar 2014 leitete er diese WG mit einem Mitbruder. Menschen aus 70 Ländern haben hier schon Station gemacht. Hier kann jeder klingeln, hier wird niemand um Papiere gefragt, Wenn ein Bett - von insgesamt 74 - frei ist, darf der Neuankömmling bleiben.
Gäsche nimmt die Erzählung ganz ohne Ironie hin und wiederholt, was ihm der Pater sagt: »Aus der Sicht Gottes hätten wir alle eine Aufenthaltsberechtigung.« Jeder sei legal und gerade die Schwachen müssen geschützt werden. Kann sich die »Societas Jesu« eine bessere PR wünschen?
Es gibt in allen europäischen Gesellschaften, aber besonders in Deutschland, eine große Zahl von Menschen, die sich nicht ausweisen können. Die irgendwo gestrandet sind, weil sie andernorts nicht gewünscht sind oder ihr Leben nicht in den Griff kriegen. Sie leben in unseren Breitengraden - auch wenn sie keine Papiere haben - deshalb so gerne, weil sie die Schutzhülle von Rechts- und Sozialstaat und den mit ihren Herkunftsländern nicht vergleichbaren, abnormen Wohlstand trotz aller Ängste oder Ausgrenzungen in gewisser Weise genießen können. Sie sind in der Lage - und auch vielfach von ihren zurückgebliebenen Familienangehörigen dazu verpflichtet worden -, bescheidene Geldsummen, die sie sich auf die eine oder andere Art verdienen konnten, in die alte Heimat zu überweisen. Andere europäische Länder bieten nicht so viele Möglichkeiten wie Deutschland.
Dieses Buch zeigt hiesige Probleme auf und porträtiert Personen, die keine Mühe scheuen noch mit Zeit und Geld geizen, bedrohten Menschen zu helfen. Dieses Buch will aber auch sagen: Die Politik soll die aktiven, aufopferungsvollen Bürger nicht im Stich lassen. Gäsche führte lange Gespräche auch mit Prominenten, u. a. mit Renate Künast, die seit 2002 nicht nur als Mitglied des Bundestages, sondern 2001 bis 2005 als Bundesministerin eine ganze Menge hätte auf den Weg bringen können, um die Papierlosen besserzustellen. Oder - wie es in Italien und in Spanien von Zeit zu Zeit geschieht - einen Schlussstrich zu ziehen und alle Illegalen, die sich freiwillig melden, zu legalen Bürgern zu erklären.
Eine Schwäche der bundesdeutschen Debatte teilt allerdings dieses Buch. Es reicht ja bei weitem nicht aus, die Menschenrechte hochzuhalten und sie zu beschwören. Man muss sich klarmachen, dass jene auf der ganzen Welt bisher nichts weiter als Postulate sind. Zudem: Der Autor spricht gern von »wir«, das so nicht existiert. Er schreibt, »die etablierten Parteien und wir, die Zivilgesellschaft, müssen uns die Frage stellen, ob wir dieses Terrain denjenigen überlassen wollen, die Stimmung machen.« »Wir« ist auszudifferenzieren.
Gut, dass man über dieses Buch etwas erfährt von jenen, die tagtäglich den Kampf um die Rechte und die Würde von Menschen ohne Papiere führen. Es sind vor allem Seelsorger protestantischer oder katholischer Konfession, die ganz nah an den Problemen der Menschen sind.
Der Jesuitenpater Ludger Hillebrand geht zu jenen in Abschiebegefängnissen. In Berlin gibt es auch das Medi-Büro der Gynäkologin Dr. Jessica Groß. Und da ist die Theologin Verena Mittermeier, die 2011 bis 2013 Vikarin an der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Oberlausitz war und jetzt als Pfarrerin tätig ist: Sie hat einige Illegale begleitet und betreut und berichtet über glückliche und tragische Momente.
Interessant ist, dass die Politiker alle Zuflucht zu einer Art Theologie nehmen, die man gar nicht mehr für gegenwartsfähig gehalten hätte. So sagt Renate Künast ohne mit der Wimper zu zucken: »Kein Mensch ist illegal. Wir sind alle Teil einer großen Schöpfung.«
Überraschend für Gäsche war, was er in dem Abschiebegewahrsam Köpenick erlebte: freundliche Polizisten, die mit ihrer Meinung zu dem »marktwirtschaftlich unrentablen« Gewahrsam nicht hinterm Berg halten. Hans-Jürgen Schildt meint: »Wer nach Deutschland kommt und bereit ist, sich an Spielregeln zu halten, der soll legalisiert werden.« Er würde die Leute arbeiten lassen. Im Abschiebegewahrsam Köpenick werden zwei Vietnamesen, ein Pole und ein Sudanese von 126 (!) Polizeiangestellten bewacht.
Es gibt bisher keine politische Lösung des Problems, weder für die Asylbewerber noch für die Wirtschaftsflüchtlinge. Es wird vielleicht auch so schnell keine Lösung geben. Deshalb ist in einer freien Gesellschaft jeder und jede gesellschaftliche Gruppe aufgefordert, etwas für die Förderung und den Schutz dieser Menschen zu tun.
Wenn man über dieses Buch erfährt, dass die Gewerkschaft ver.di sich geweigert hat, den Lampedusa-Flüchtlingen in Hamburg die Mitgliedschaft zuzuerkennen, kann man nur ratlos und entsetzt den Kopf schütteln. Das hat mit internationaler Solidarität, von der Gewerkschaften gerne sprechen, nichts mehr zu tun. Die Begründung war noch tolldreister: Man sehe sich nicht zuständig für »Menschen ohne Arbeitserlaubnis«. Eine schöne »zuständige« Gewerkschaft ist das!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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