Zwischen Taktik und Neuanfang
70 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis
Deutschland, 1945. Die Städte liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, die braunen Parolen vom »Endsieg« sind verhallt. Wie sollte die evangelische Kirche auf diesen Zusammenbruch reagieren - eine Kirche, die sich in Teilen mit der nationalsozialistischen Sache gemein gemacht hatte? Am 19. Oktober 1945 unterzeichneten protestantische Bischöfe und Kirchenpräsidenten in Stuttgart ein Schuldbekenntnis, das einen Neuanfang signalisierte. Damit ernteten sie vor 70 Jahren einen Sturm der Entrüstung.
»Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden«, heißt es in dem Dokument. »Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.« Zu den Unterzeichnern gehören amtierende und spätere Landesbischöfe sowie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Verfasst wurde das Papier von Mitgliedern des Rats der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller.
Der EKD-Rat stand bei seiner Oktobersitzung unter Druck. Hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die kurz zuvor noch Krieg geführt worden war, hatten sich nach Stuttgart aufgemacht, um die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen wieder aufzunehmen. Doch dazu brauchte es ein klar wahrnehmbares Zeichen des deutschen Protestantismus, das die Mitverantwortung für die NS-Verbrechen deutlich machte. Das sollte das Schuldbekenntnis leisten.
Dennoch ist die Erklärung nicht nur ein taktisches Papier, betont der Münchener Historiker Harry Oelke, Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Ein Bewusstsein für die Verstrickungen der Kirche in den Nationalsozialismus und ein persönliches Schuldempfinden habe sich bei einigen Ratsmitgliedern schon in den Monaten vor der Erklärung gezeigt. Dass der Besuch ausländischer Kirchenvertreter den Prozess hin zu einem Schuldbekenntnis aber beschleunigt hat, steht für Oelke außer Frage.
Inhaltlich bietet das Schuldbekenntnis aus heutiger Sicht einige Probleme. So ist der Massenmord an den Juden mit keiner Silbe erwähnt. Die Formulierungen im Komparativ (»nicht mutiger«, »nicht treuer«, »nicht brennender«) können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug. Die Verstrickungen mit dem Regime und der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung. Unpräzise bleibt zudem, wer mit dem »wir« in der Erklärung gemeint ist - nur die Unterzeichner oder alle Evangelischen oder gar das ganze deutsche Volk? Innerhalb Deutschlands traf das Dokument teils auf heftige Ablehnung. Es hagelte die Protestbriefe, Menschen fühlten sich in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig fühlten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter.
Außerhalb Deutschlands zeigte das Bekenntnis den gewünschten Erfolg. Kirchengemeinden etwa in den USA schickten Hilfspakete an die Glaubensgeschwister. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt.
Laut Oelke steht das Dokument am Anfang einer Kette von Beschlüssen, die das demokratische Denken tief im Protestantismus verankert haben. Diese demokratischen Ansätze habe es in der regimekritischen »Bekennenden Kirche« noch nicht gegeben. epd/nd
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