Genommen, was andere brauchten
Aktivisten erzwangen per Hausbesetzung die Überlassung einer Unterkunft in Lübeck
Nicht alle Flüchtlinge wollen nach Deutschland. Für einige ist es nur Transitland auf dem Weg nach Norden, nach Skandinavien. Seit Anfang September gilt deshalb für das selbstverwaltete Kulturzentrum »Alternative« in Lübeck eine neue Zeitrechnung: Die Aktivisten haben zusammen mit dem Lübecker Flüchtlingsforum binnen sechs Wochen 8000 Flüchtlinge für meist 24 Stunden aufgenommen, wenn diese auf dem Lübecker Bahnhof strandeten und ihre Reise nach Skandinavien, inzwischen meist per Fähre, nicht direkt weiterging. Die Aktivisten engagieren sich zum Teil bis zur Erschöpfung, um die Ankömmlinge zu betreuen und zu versorgen. Auf der Facebook-Seite des Flüchtlingsforums heißt es: »Wir benötigen für heute …«, dann folgt eine lange Aufzählung von Lebensmitteln und anderen Gegenständen für die Flüchtlingsbetreuung. Bisher konnten sich die bis zu 200 Aktivisten auf die Spendenbereitschaft der Lübecker verlassen.
Die ansonsten als politisch aufmüpfig wahrgenommenen linken Kräfte widmen sich unermüdlich und aufopferungsvoll den Transit-Flüchtlingen, die überwiegend nach Schweden wollen, einige auch nach Finnland oder Norwegen. Die Zeit bis zur Fährpassage verbringen die Flüchtlinge zusammen mit der »Alternative«-Community, bei ihnen finden sie Ansprechpersonen und Dolmetscher, die unbürokratisch helfen - so beim Besorgen von Fährtickets, dem Transfer zum Fährhafen Travemünde, bei gesundheitlichen Problemen, beim Beschaffen benötigter Medikamente, beim Trocknen von durchnässter Kleidung oder der Verteilung von Kleiderspenden, bei der Verpflegung und nicht zuletzt bei der Bereitstellung von Schlafplätzen.
Dafür wurde der Veranstaltungssaal »Treibsand«, in dem eigentlich Musikkonzerte stattfinden, zum Matratzenlager und Schlafsaal umfunktioniert. Das bedeutet zwar keinen Komfort für die Betroffenen, aber eine Refugees Welcome-Umgebung statt des kalten Betonbodens in der Bahnhofshalle. Dafür sagte die »Alternative«, die es seit 1978 gibt, einige Konzerte ab, wohl wissend, dass damit auch ein Stück Finanzierung der selbstverwalteten kulturellen und politischen Arbeit wegbricht.
In der Öffentlichkeit konnten die Aktivisten das eigene Image aufpolieren, weil sie der Stadt eine aufwendige und kostenintensive Arbeit abnehmen - was in der linken Szene zugleich heftig und durchaus kontrovers diskutiert wird. Die alte Renitenz zeigte sich, als die Situation untragbar wurde; Flüchtlingsfamilien mit Kindern waren unterzubringen, mit den eigenen räumlichen Möglichkeiten auf dem eigenen Gelände stieß man an Grenzen.
Direkt neben dem »Alternative«-Grundstück befindet sich ein städtisches Gebäude des Grünflächenamtes, das bisher als Lagerraum und Aufenthaltsort für vier Bedienstete diente. »Alternative« und Flüchtlingsforum waren vor Wochen mit der Bitte an die Stadt herangetreten, die 280 Quadratmeter umfassenden Räumlichkeiten für die Flüchtlingsbetreuung nutzen zu dürfen. Die Stadt reagierte nicht einmal.
Am letzten Wochenende besetzten 150 Aktivisten das Haus, um mehr Platz für Flüchtlinge zu erhalten. Polizei und Stadtvertreter beobachteten die Aktion, schritten aber nicht ein. Noch vor Ablauf einer Frist, die die Aktivisten für Mittwoch gesetzt hatten - dann sollten die ersten Flüchtlinge hereingeholt werden -, schaute sich Lübecks Bürgermeister Bernd Saxe (SPD) am Dienstag in Begleitung seines Innensenators Bernd Möller (Grüne) die Lage an. Nach kurzer Verhandlung wurde die Bereitstellung des Gebäudes per Handschlag mit Britta Kloss vom Flüchtlingsforum besiegelt.
Die Rede ist nun von einem Mietverhältnis ohne Mietzahlung. Einzige Bedingung: Die Brandschutzbestimmungen müssten eingehalten werden. Das steht nun als nächstes auf der To-do-Liste der »Alternative«. Die LINKE in Lübeck, die die Stadt bereits wegen Untätigkeit in einer öffentlichen Notsituation verklagen wollte, begrüßte die Einigung. Umgekehrt wetterte die CDU gegen die Flüchtlingshelfer, ihre Besetzungsaktion und den nun einlenkenden Bürgermeister: »Es kann sich nicht jeder nehmen, was er braucht.«
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