Eine Strömung in Bewegung
Zum Stand und zur Zukunft der europäischen Sozialdemokratie.
Erst die griechische, nun die Flüchtlingskrise - der europäische Politikbetrieb scheint gefangen im bloßen Reagieren auf Schlagzeilen. Doch bei längerem Hinsehen ist nicht zu verkennen, dass sich auch in den Parteienfamilien so einiges ereignet. Ein Blick lohnt insbesondere auf die Sozialdemokratie. Denn wenn sich die Linke zurecht über die bestehenden Verhältnisse in der Europäischen Union beschwert, sollte sie umso genauer beobachten, ob sich Risse innerhalb des Machtblocks auftun und sich die sogar vertiefen ließen. Kann das aber mit der europäischen Sozialdemokratie geschehen? Die Zweifler haben viele ausgezeichnete Argumente auf ihrer Seite. Zugegeben. Doch die Strömung ist in Bewegung, woraus sich mehrere mögliche Zukunftsszenarien ableiten lassen.
Für den griechischen Arbeitsminister Giorgos Katrougalos ist die Sache klar: In einem Gespräch kurz vor den Neuwahlen vom 20. September vertrat er die These, dass die politische Existenzberechtigung der europäischen sozialdemokratischen Parteien verloren geht, wenn sie sich nicht gegen die Austeritätspolitik stellen.
Dr. Martin Schirdewan ist Politikwissenschaftler und leitet das Europabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel und in Athen. Schwerpunkte der Arbeit der Büros sind neben der Analyse der europäischen Parteien- und Akteurslandschaft vor allem die Auseinandersetzung mit der Austeritätspolitik und der Demokratieentwicklung in der EU. Hierbei liegt das besondere Augenmerk auf den Themenfeldern der Migrationspolitik, der Handelspolitik, der Industriepolitik, der sozial-ökologischen Transformation der EU und dem Kampf gegen Rechts. Weitere Informationen dazu unter:
Die Verhandlungen über das dritte Memorandum zwischen Griechenland und der Eurogruppe haben nicht nur die alte Debatte innerhalb der europäischen Linken wiederbelebt, inwieweit die EU reformierbar und damit politisch gestaltbar sei, wie die europäische Integration voranzuschreiten habe und ob überhaupt. Fast unbemerkt haben die Verhandlungen auch einen Riss in der Sozialdemokratie hervorgerufen. Insbesondere der französische Präsident François Hollande und der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi vertraten laut Katrougalos moderate Positionen, die sich deutlich von denen der Konservativen, aber auch von denen ihrer sozialdemokratischen Kollegen aus Spanien, Osteuropa und Skandinavien unterschieden. Sie plädierten offensiv für eine weniger strikte Austerität und eine Politik, die Wachstumsimpulse für die griechische Wirtschaft vor allem durch Investitionen setzt. Warum? Katrougalos erklärt das mit der Angst vor dem PASOK-Effekt. Setzt die Sozialdemokratie die brutale Austeritätspolitik gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit und ihrer Wählerinnen und Wähler durch, dann verschwindet sie quasi von der politischen Bühne: Auch nach der Neuwahl sind die griechischen Sozialdemokraten der PASOK weit davon entfernt, wieder die stärkste und prägende Kraft des politischen Systems von Hellas zu werden. Zumal SYRIZA die durch den Niedergang von PASOK gerissene Lücke im griechischen Parteiensystem als eine links-sozialistische Partei auszufüllen scheint.
Jenseits des Ärmelkanals feiert mit Jeremy Corbyn ein Linker und bekennender Sozialist seine politische Auferstehung als neuer Vorsitzender der Labour-Partei. Seine ersten Amtshandlungen: Er spricht auf einer Großdemonstration für eine andere, humane Flüchtlingspolitik in Großbritannien und der Europäischen Union, und kündigt wenige Tage später an, das privatisierte Eisenbahnnetz wieder in die öffentliche Hand überführen zu wollen. Eine regelrechte Corbynmania, ein Hype, dass Labour endlich wieder erkennbar und politisch von den Tories unterscheidbar sei, hat dem 66-Jährigen das Amt beschert. Gratulationen von links kamen aus ganz Europa. Die europäische Sozialdemokratie reagierte jedoch eher verschnupft darauf, dass eine ihrer großen Parteien aus dem Konzert der Austeritätsverteidiger ausbrechen und die Entwicklung bei Labour sogar noch Ansteckungsgefahr bergen könnte. Eine linke europäische Sozialdemokratie? Davor scheinen sich derzeit vor allem die Sozialdemokraten selbst zu fürchten. Nicht zuletzt deshalb halten sich hartnäckige Gerüchte, dass der Blair-Flügel der Labour Party über eine Abspaltung nachdenke.
Im österreichischen Burgenland koalieren hingegen die Sozialdemokraten mit der FPÖ. Österreich - da war doch was? Dort hatte das Modell der konservativ geführten Koalition mit den damals noch von Jörg Haider angeführten Rechtspopulisten seinen Ursprung. Laut war der Aufschrei, Österreich dränge aus der demokratischen Familie der alten EU15. Sanktionen der übrigen EU-Staaten wurden im Januar 2000 erwogen. Und heute? Jetzt koalieren viele Konservative munter mit Rechtspopulisten und Rechten der jeweiligen nationalen Parteiensysteme. Die Rechten sind den Konservativen ein geeignetes Mittel der Machtsicherung geworden. Vom Ende der Demokratie wird natürlich nicht mehr gesprochen - man vergleiche den Umgang mit der demokratisch legitimierten Regierung Griechenlands. Jetzt debattiert die österreichische Sozialdemokratie, wie sie sich Machtoptionen eröffnen kann, jenseits der dauerhaften Zwangsehe mit der Volkspartei. Den Weg zur Macht soll auf Landesebene auch die FPÖ bereiten. Man teile schließlich einige sozialpolitische Ansichten. Im Bund scheint eine Zusammenarbeit dagegen (noch) ausgeschlossen.
Welchen Weg also wird die europäische Sozialdemokratie einschlagen? Anhand der oben dargestellten Beispiele sind drei Szenarien denkbar. Szenario eins: Der Rechtsschwenk. Das Modell einer sozialdemokratisch-rechtspopulistischen Regierung wird zum zweiten österreichischen Polit-Exportschlager und hält Einzug in andere Mitgliedsstaaten der EU. Die Sozialdemokratie bleibt - in Übereinstimmung mit ihren potenziell neuen Politkumpels - bei einem marktradikal-neoliberalen Profil und schwingt sich zum Preis der Aufgabe internationalistischer Positionen das Mäntelchen des nationalstaatlichen und ausschließlich an den hehren Interessen der Volksgemeinschaft orientierten Wohltäters über. Eine Sozialdemokratie von Volk und Nation quasi. Aber: not very likely. Da werden sich angesichts aktueller Entwicklungen im Bereich der Industrie 4.0 und längst international organisierter Wertschöpfungsketten die traditionell noch immer stark mit der Sozialdemokratie verbundenen Gewerkschaften zu wehren wissen, wollen sie nicht endgültig dem Treiben der transnational arbeitenden Unternehmen und des wildgewordenen Finanzmarktes hilflos ausgeliefert werden. Dennoch üben auch die zahlreichen erfolgreichen Rechtsparteien in der EU Druck auf die Sozialdemokratie aus, sich programmatisch im Sinne einer Zusammenarbeit zu erneuern.
Szenario zwei: Der radikale Linksschwenk. Das Modell Corbyn wirkt sich erfolgreich auf die Schwesterparteien aus. Diese schwören der Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur, dem Abbau des Sozialstaates sowie der Umverteilung von unten nach oben ab und nehmen per Gesetzgebung Finanzmärkte wie Konzerne an die kurze Leine. Dazu: Investitionen statt Austerität. Dafür werden sie Koalitionspartner brauchen, die sie auf der Seite der Linken in Europa finden. Die nächste Nagelprobe für dieses Szenario werden die spanischen Parlamentswahlen Ende des Jahres sein, nachdem sich bereits in Portugal eine sozialdemokratisch-linkssozialistische Regierungsbildung anbahnt. Durch den ebenso überraschenden wie überwältigenden Erfolg Jeremy Corbyns nimmt der Druck auf die sozialdemokratischen Schwesterparteien zu, sich ihren politischen Wurzeln wieder anzunähern. Den alten Führern der Parteien und den durchgestylten Apparaten, die auf die technokratische Umsetzung von Politik getrimmt sind, dürfte es jedoch schwer fallen, sich so grundlegend neu zu erfinden. Neue Formen der Beteiligung und Mitbestimmung der Parteimitglieder im Sinne einer Stärkung von Basisdemokratie, wie sie einige europäische Linksparteien bereits umsetzen und wie sie Corbyns New Labour jetzt auch erprobt, sind für den Kurswechsel nötig.
Szenario drei: Die Kurskorrektur. Das Modell Corbyn greift nicht, aber der Druck von links bleibt auch nicht wirkungslos. Die Linksparteien etwa in Portugal und Spanien erstarken. Die SYRIZA-geführte, bislang einzige Linksregierung in Europa zeigt durch ihre Vertreter in den entsprechenden Gremien auf EU-Ebene alternative Positionen zu Neoliberalismus, Nationalismus und Austerität auf. Sie verstärken die Widersprüche innerhalb der europäischen Sozialdemokratie und bewirken so deutliche Positionsveränderungen. Ein halbwegs funktionstüchtiger Sozialstaat, Arbeitnehmerrechte, Umverteilung durch kluge Steuerpolitik sind dann wieder en vogue. Der konservativ-sozialdemokratisch-neoliberale Machtblock wird teilweise aufgelöst und durch eine sozialdemokratisch-linkssozialistische und/oder grüne und/oder liberale Machtvariante ersetzt - ohne die kapitalistische Gesellschaftsformation wirklich herauszufordern. Dies ist die derzeit wahrscheinlichste Variante.
Was bedeutet das für die von links erhoffte Veränderung der Machtverhältnisse in der EU? Im Modell des Rechtsschwenks der europäischen Sozialdemokratie käme es zu einer weiteren Verfestigung der neoliberalen Politik bei gleichzeitiger Renationalisierung der innereuropäischen Beziehungen, wobei gewisse soziale Wohltaten auf nationaler Ebene mit einer xenophoben Politik gekoppelt werden. Die Linke in und außerhalb der Parlamente ist darauf beschränkt, hin und wieder an das schlechte Gewissen der Sozialdemokratie zu appellieren.
Das Corbyn-Modell und der radikale Linksschwenk sind eher ein Wunschtraum in Bezug auf die europäische Sozialdemokratie. Dennoch werden die bestehenden Differenzen vertieft werden. Corbyn ist ein Geschenk für die europäische Linke, wenn sie ihrerseits klug genug ist, es auch anzunehmen. Hier wird Druck erzeugt, den die Linke selbst bislang nicht entfalten konnte. Darauf sollte man sich politisch vorbereiten und um Corbyn werben. Kooperationen in praktischen Fragen wie linker Industriepolitik, der Rekommunalisierung bzw. Rückführung wichtiger Bereiche der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand, eine gemeinsame Debatte um einen post-neoliberalen europäischen Sozialstaat, die Bändigung der Finanzmarktakteure, der gemeinsame Kampf gegen TTIP sind hier mögliche Schritte. Die Linke sollte nicht scheuen, diese zu gehen.
Anzunehmen ist jedoch, dass sich das Modell der Kurskorrekturen innerhalb des bestehenden politischen Mainstreams durchsetzt. Die Sozialdemokraten werden sich durch die sozialen Folgen der Austeritätspolitik einerseits und des Handelsbilanzdefizits in der EU andererseits gezwungen sehen, auf ein keynesianisches Politik- und Entwicklungsmodell umzuschwenken. Die Bewegung und ihre Reichweite wird maßgeblich von der nationalen sozial-ökonomischen Situation beeinflusst sein. Sie würde den schwarz-roten neoliberalen Machtblock (siehe Deutschland, Italien, Österreich) in Frage stellen und den Sozialdemokraten viele Koalitionsmöglichkeiten offen lassen, je nach Stärke im jeweiligen nationalen Parteiensystem. Hier bestünde die Rolle der Linken darin, die Sozialdemokraten in entsprechende Koalitionen zu zwingen, um selbst einen Teil ihres politischen Kanons von Anti-Austerität und sozialer Gerechtigkeit umzusetzen. Es ist die wahrscheinlich anspruchsvollste Aufgabe unter den möglichen, angesichts der manchmal wechselseitig vorhandenen herzlichen inneren Abneigungen. Aber Politik ist eben Politik.
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