Sieben Seen, zwei Gesichter
Schwerin gilt heute als Blumenstadt - und macht nur langsam ihre Deindustrialisierung wett
Im Frühjahr sorgte eine Nachricht für Wirbel in der »Stadt der sieben Seen«: Linkspartei, CDU und SPD hätten sich aus Kostengründen darauf geeinigt, die für Anfang 2016 vorgesehene Schweriner OB-Wahl ausfallen zu lassen. Amtsinhaberin Angelika Gramkow (LINKE) solle einfach weitermachen. Das war ein Aprilscherz, die Pointe des Blogs »die Schweriner« saß aber so gut, dass es tatsächlich besorgte Anrufe im Rathaus gab.
Wer wissen will, weswegen derlei mitunter gar nicht so unglaubwürdig wirkt in Deutschlands kleinster Landeshauptstadt, streife an einem schönen Tag zwischen dem Landtagsmärchenschloss, den für die Bundesgartenschau angelegten Gärten und dem innenstädtischen »Pfaffenteich« mit seiner schnuckeligen »Petermännchen«-Fähre umher. Schwerin kann in seiner Mitte ein solches Übermaß an friedfertiger Postkartenhaftigkeit verströmen, dass tatsächlich alle Gedanken an Zwietracht verblassen.
Und tatsächlich lässt sich der Wahlkampf bisher sanft an. SPD-Kandidat Rico Badenschier etwa ließ sich Ende Juli mit dem Satz zitieren, Gramkow mache einen »guten Job«, nur sei »gut nicht gut genug«. Simone Borchardt, die für die CDU ins Rennen geht, erklärte bei ihrer Vorstellung, sie wolle sich für eine zweite Bundesgartenschau (BUGA) sowie die Aufnahme von Teilen des Innenstadtensembles ins Weltkulturerbe stark machen - womit sie im Rathaus offene Türen einzurennen versucht. »Schloss, Seen, Gärten, Historische Altstadt«, so lauten die »Markenschwerpunkte« der Schwerin-Werber. Und tatsächlich hat sich Schwerin spätestens seit der BUGA 2009, die - anders als anderswo - Gewinne abwarf, als Touristenziel etabliert.
Dass sich die Stadt heute so präsentieren kann, liegt an ihrer Geschichte. Schwerin, seit 1160 mit Stadtrecht gesegnet, war stets mehr Verwaltungszentrum als Wirtschaftsstandort. Wohl deshalb blieb die Stadt im Weltkrieg weitgehend verschont. In zwei Angriffen kamen etwa 200 Menschen um, doch ansonsten schien die Stadt für Bombardements zu unbedeutend. Architekturhistoriker schwärmen von der »unzerstörten Stadt«.
Das ist das eine Gesicht von Schwerin. Zu einem anderen führt die Straßenbahnlinie 2. Die verkehrt zwischen dem Großen Dreesch und Lankow - DDR-Großsiedlungen, die trotz aller Bemühungen noch immer mit Problemen behaftet sind: Arbeitslosigkeit, Leerstand und alles, was daraus folgt. Es ist keine zehn Jahre her, dass besonders Lankow Schlagzeilen machte, die so gar nicht zum idyllischen Zentrum passten: 2007 wurde dort in einem Wohnblock der Leichnam eines verhungerten fünfjährigen Mädchens gefunden. Obgleich sich die Sache so einfach nicht verhielt - die Eltern waren zwar arbeitslos, die Wohnung aber nicht verwahrlost, Alkohol und Drogen spielten keine Rolle - avancierte Schwerin hernach zum Inbegriff eines düsteren Ostens von »Plattenbau« und Entmenschung.
Der Fall löste eine bundesweite Debatte um die Wahrung des Kindeswohls aus. Vor Ort wurden die Eltern wegen Mordes verurteilt und das Jugendamt reformiert. Doch rund um den Fall sowie die »Laptop-Affäre« des jungen CDU-Stadtpräsidenten, dessen Computer mit sensiblen Daten sich bei einer Prostituierten fand - womöglich als Pfand für unbezahlte Dienste, ganz geklärt wurde das nie -, entstand 2007 und 2008 eine aufgeheizte Stimmung in Schwerin. Selbst beim »Petermännchen« wollte man zeitweise eher an den barschartigen Giftfisch aus dem Schwarzen Meer denken als an den humorigen Schlossgeist. Das alles entlud sich in einem Erdbeben: CDU-OB Norbert Claussen, der sich sehr unglücklich zu dem Fall des Mädchens geäußert hatte, wurde per Volksentscheid verjagt. Es folgte Gramkow als erste Frau im Rathaus; zugleich begann der Aufstieg der damaligen SPD-Stadtfraktionschefin Manuela Schwesig.
Dabei standen gerade die Großsiedlungen einmal für die Zukunft. Besonders das Neubaugebiet auf dem Dreesch am Südrand Schwerins ist noch immer ein Freilichtmuseum des Modernismus á la DDR: eine funktionalistische Stadt in der Stadt, komplett mit Schwimmhalle, Fernsehturm, Einkaufszentrum, Bibliotheken, allerlei Kulturangeboten und sogar einer nagelneuen katholischen Kirche, sinnigerweise in der Galileo-Galilei-Straße. Unweit davon sorgt bis heute die westlichste erhaltene Lenin-Statue Europas gelegentlich für Emotionen.
Die Siedlungen zeugen von einem groß angelegten Versuch, die schon damals strukturschwachen Nordbezirke zu industrialisieren. Fast 8000 Arbeitsplätze entstanden seit den 1970er Jahren. Facharbeiter aus den südlichen Bezirken wurden mit den damals attraktiven Wohnungen gelockt. Für etwa 20 Jahre wurde die ewige Residenz tatsächlich auch eine Industriestadt; zwischen 1969 und 1989 sprang die Einwohnerzahl von 95 000 auf 130 000. Bedeutend waren vor allem das Kabelwerk Nord und das Klement-Gottwald-Werk (KGW), das seit den 1950ern zu einem der wichtigsten Schiffbauzulieferer ausgebaut wurde und 1979 mit dem Rostocker Schiffbaukombinat fusionierte.
Nach der Wende konnte sich Schwerin zwar etwas überraschend gegen Rostock als Landeshauptstadt durchsetzen, verlor aber einen Großteil seiner Industrie. Erst in jüngeren Jahren gibt es eine leichte Erholung: Weder Kabelwerk noch KGW sind ganz verschwunden. Im Stadtteil Sacktannen werden weiterhin Kabel gefertigt; nördlich der Altstadt produziert die »KGW Schweriner Maschinen- und Anlagenbau GmbH« inzwischen für den Windkraftsektor, wenn auch mit weniger als 200 statt der einst 1300 Beschäftigten. Und im an den Dreesch grenzenden südlichen »Industriepark« entstand, anders als man gehofft hatte, zwar nicht jenes BMW-Werk, das heute in Leipzig 4000 Menschen beschäftigt. Was es inzwischen aber gibt, sind Mittelbetriebe mit 150 bis 250 Mitarbeitern. Unter anderem werden dort Kaffeekapseln und Teile für Airbus gefertigt.
Dass die Stadt seit der Wende enorm geschrumpft ist - Ende 2013 hatte sie laut Statistischem Landesamt mit gut 91 000 Einwohner in etwa so viele wie 1965 -, liegt aber nicht nur am industriellen Aderlass. Viele derjenigen, die gut über die Wende gekommen waren, zogen ins Umland. Für die Stadt ist dies ein strukturelles Problem: Während Steuerzahler abwanderten, blieben - oft in den Großsiedlungen - Arbeitslose und Rentner. Zugleich hält man aber Dienstleistungen wie das nun nach langem Gezerre vom Land übernommene Theater auch für Auswärtige vor. Diese Schere und eine nicht immer kluge Politik in den 1990ern und 2000ern sorgten für eine chronische Haushaltskrise und einen riesigen Schuldenberg. Es sorgte daher schon für Aufsehen, dass die Kommunalaufsicht den aktuellen Stadthaushalt erstmals seit langem ohne Auflagen genehmigte.
Und vielleicht wendet sich das Blatt auf dem Dreesch oder in Lankow auch noch einmal - nicht nur durch Umbaumaßnahmen, von denen es einige gibt, sondern durch eine Verschiebung des kollektiven Geschmacks. Schließlich galten auch die heute so begehrten »Altbauviertel« einmal als fürchterliche Umgebung - und erfahren etwa in Berlin lange als Bausünden verschriene Westwohnblocks überraschend neue Wertschätzung. Dass die modernistische Bauweise kulturell zumindest nicht wertlos ist, musste Oberbürgermeisterin Gramkow zuletzt mit Ärger zur Kenntnis nehmen: Ausgerechnet sie, die einer pauschalen Missachtung von DDR-Kulturerbe wohl unverdächtig ist, wird seit Monaten vom Denkmalamt in ihrem Vorhaben gebremst, die alte Lankower Schwimmhalle, Typ »Bitterfeld«, abzureißen und eine neue zu errichten. Das erste Schreiben in der Sache soll übrigens am 1. April eingegangen sein.
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