Radikale Bescheidenheit

Politische Substanz, parteipolitische Form und ein Büchlein von 1973: drei kurze Gedanken zur Zukunft der Sozialdemokratie

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 9 Min.

Der hier dokumentierte Text ist in der aktuellen Ausgabe der SPD-linken Zeitschrift »spw« erschienen. Der Schwerpunkt befasst sich mit dem Thema »Gutes linkes Leben«. Anschließend an eine schon vor zwei Jahren bei den Jusos begonnene Debatte wird hier die Frage aufgeworfen, »wie dieses gute Leben denn konkret aussehen sollte«.

Und weiter heißt es: »Gutes Leben braucht gute Lebensbedingungen und einen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie z.B. zu Bildung, Finanzen, Mitbestimmung und sozialer Sicherung. Historisch wurde dies durch die ArbeiterInnenbewegung mit der Etablierung und dem Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaats gegen die Interessen des Kapitals und der Monarchie erkämpft. Unter veränderten Bedingungen kann die politische Linke gesellschaftlichen Fortschritt und mehr Gerechtigkeit nur erreichen, wenn es ihr gelingt, diese Zugänge immer wieder zu erkämpfen, dem Wunsch nach mehr Teilhabe gerecht zu werden und so einen neuen Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert zu ermöglichen. Aus diesem Grund müssen wir uns die Frage stellen, was denn aus linker Sicht ein gutes Leben ist oder sein kann.«

Die neue »spw« enthält darüber hinaus einen Sonderteil zum SPD-Bundesparteitag, der vom 10. bis 12. Dezember 2015 in Berlin tagt. In dem zweiten Schwerpunkt schreiben unter anderem Stephan Hebel, Horst Heimann, Ernst Dieter Rossmann, Karl Kopp von Pro Asyl, Sarah Ryglewski, Frank Schwabe und Joachim Schuster.

I.

Die SPD macht es einem nicht gerade schwer, sie von links zu kritisieren. Deshalb wird oft davon Gebrauch gemacht, allerdings werden viele Vorhaltungen an die Adresse der ältesten Partei in diesem Land von Motiven geleitet, die mit dem Zustand, mit dem Potenzial, mit der Zukunft der Sozialdemokratie nicht viel zu tun haben. Eher mit parteipolitischer Münze. Solches Kleingeld ist leicht ins Wasser geworfen, wo es rasch zu Grunde sinkt.

Etwas schwieriger aber auch interessanter wird es, wenn man sich die Frage stellt, welche politischen Herausforderungen bestehen und wer daran mitwirken könnte, müsste, sollte, das Ruder herumzureißen. Wenn in naher Zukunft auf das Jahr 2015 zurückgeblickt werden wird, könnten Kundige und Interessierte folgender Meinung sein: Die Auseinandersetzungen um die europäische Krisenpolitik und das in Berlin orchestrierte Vorgehen einer auf Regeln (autoritär) und Etatdisziplin (austeritär) setzenden Strategie gegenüber der SYRIZA-geführten Regierung einerseits sowie die mit der politischen Krise des Umgangs mit Asylsuchenden aufgeworfenen Fragen markierten einen Wendepunkt. Es stand, im Jahr 2015, zur Entscheidung an, auf welchen Weg sich politische Kräfte machen: Weiter mit Vollgas geradeaus? Auf dem Seitenstreifen stehend etwas verschämt dem Verkehr zuschauen? Oder doch endlich einmal wirklich Abbiegen?

Zwischen dem Herrschaftsprojekt einer »Richtungskonstanz auf unveränderter Grundlage«, die auf Restauration des autoritären Neoliberalismus abzielt und auf Krisen und Herausforderungen mit einer Intensivierung der alten Regulationsmechanismen reagiert, also mit Finanzialisierung, Kürzungsdiktaten, Privatisierung, Flexibilisierung, Prekarisierung, Entdemokratisierung, und dem Veränderungsprojekt eines linken »Richtungswechsels auf neuer Grundlage«, die auf eine konsequente Transformation abzielt, welche nicht bei einem New Deal der »alten Sorte« stehen bleibt, sondern sozial, libertärer und grün ist, ist die natürlich Bandbreite groß.

Aber im Grunde, und dass man dies immer wieder in Erinnerung rufen muss, zeigt eigentlich schon die Schwäche der Position an, die hier vertreten wird, sind die Herausforderungen klar. Linke Veränderung müsste demnach (und natürlich nicht den Anspruch der Vollständigkeit erhebend) heißen: sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft, neuer planetarer Ausgleich zwischen Rohstoff- und Ökosystembesitzern auf der einen sowie industriellen Produzenten auf der anderen Seite; Neuverteilung der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten Reproduktionsarbeit sowie der Einkommen; Entfesselung anderer gesellschaftlicher Innovationsmechanismen als denen der privaten Warenproduktion, Demokratisierung aller Lebensbereiche, Überwindung von Mechanismen jedweder Form der Ausgrenzung und Ungleichbehandlung.

II.

Wer sich der Sozialdemokratie von links zuwendet, kann »Wer hat uns verraten?« rufen. Es handelt sich hierbei jedoch oft nicht um eine Kritik, die sich dafür interessiert, warum die SPD heute so agiert und nicht anders. Besser formuliert: Kritik sollte auch den Abstand ausmessen zwischen dem, was Sozialdemokratie unter den Bedingungen moderner kapitalistischer Gesellschaften vor nicht allzu langer Zeit meinte, und dem, was heute die Politik und die Debatte dieser Partei prägt. Über letzteres gibt die Regierungspolitik der SPD und die beginnenden Diskussion über Gabriels »starke Ideen für Deutschland 2025« Auskunft.

Zu ersterem ist die Auswahl möglicher Quellen riesig. Wenn an dieser Stelle ein kleiner Auszug aus einem Sammelband von 1973 ausgewählt wird, dann vor allem deshalb, weil es auch damals um eine programmatische Verständigung von größerer zeitlicher Tragweite ging, um »Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm«. Das Zitat stammt aus der Debatte um den Orientierungsrahmen 1985 der SPD:

Die Ausweitung demokratischer Möglichkeiten, heißt es da, »ist grundlegendes Ziel und Mittel einer demokratisch-sozialistischen Politik. Sie bedeutet zuerst die Sicherung und Ausweitung demokratischer Rechte auf alle Lebensbereiche. Das bedingt den Abbau unkontrollierbarer, unlegitimierter Macht – gleichgültig, ob sich diese aus der Position eines Eigentümers oder eines undurchsichtigen Apparates herleitet. Jede demokratisch-sozialistische Politik, die den Menschen mehr Freiheits- und Beteiligungsrechte sichern will, steht vor dem Problem, solche Rechte organisieren zu müssen in einem Prozess der Willensbildung, der in sich mehr Demokratie enthält. Dieses Problem zu lösen, erfordert eine größere Mobilisierung der Einzelnen und ihre Selbstorganisierung in Gewerkschaften, Parteien und anderen kollektiven Gruppen. Das macht errungene Rechte wie Streikrecht, Tarifautonomie, Meinungsfreiheit und andere unverzichtbar. Andererseits verlangt die Durchsetzung von mehr Freiheit und Gerechtigkeit nicht nur solidarisches Handeln der bisher Benachteiligten. Sie müssen vielmehr über demokratisch legitimierte Gremien selbst bestimmen können, welche Entwicklung langfristig die Gesellschaft nehmen soll.

Spätestens an diesem Punkt stößt jede demokratisch-sozialistische Politik an die Grenzen, die ein privat bestimmtes, kapitalistisch organisiertes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit den darin bestehenden Macht- und Interessenstrukturen setzt. Diese Macht- und Interessenstrukturen zu überwinden, ist Voraussetzung, um gesellschaftlich entschiedene Norm- und Zielvorstellungen gegenüber Einzelinteressen durchsetzen zu können. Das ist nicht möglich, solange die öffentlichen Entscheidungen hinter den Tatsachen herlaufen, die ein Wirtschaftssystem schon längst anhand der ihm innewohnenden Gesetze und Widersprüche gesetzt hat.

Es ist ein System, das selbst ständig Veränderungen bewirkt, sich dauernd neue Bedingungen schafft, ohne dabei seine inneren Widersprüche überwinden zu können. Das ‚System’, so wie es hier verstanden wird, ist keine statische Einheit, die man in Einzelteile zerlegen könnte. ‚System’ meint die Gesellschaft als eine Einheit, deren ständiger Veränderungsprozess und Entwicklungsprozess bestimmt ist von den Widersprüchen, die ihrer Produktions- und Organisationsweise innewohnen.«

Ok, damals wussten wir noch nichts von selbst fahrenden Autos, dem Internet oder den Folgen von Soft-Robotics für die industrienahen Dienstleistungen und das produzierende Gewerbe. Aber ist das, was da 1973 aufgeschrieben wurde, deshalb heute falsch?

III.

Wer über den Zustand der SPD reden will, kann dies auch mit Griechenland im Kopf tun. Die Erklärungen, die von den meisten Vertretern der SPD-Spitze gegen die Regierung in Athen vorgetragen wurden, markieren nicht bloß irgendeinen kritischen Punkt. Es geht um mehr, um das Fleisch ihrer Politik, nicht irgendeine Beilage: Die Verantwortlichen in der SPD haben sich einerseits vehement dafür eingesetzt, dass SYRIZA daran gehindert wird, eine sozialdemokratische Politik umzusetzen. Andererseits betrieben sie eine Re-Nationalisierung der sozialen Frage. Die von Sigmar Gabriel gegen die »Wahlversprechen einer in Teilen kommunistischen Regierung« in Haftung genommenen »deutschen Arbeitnehmer und ihre Familien«, haben das in einer beschämenden Weise auf den Punkt gebracht. Das zeitgleich unter der Ägide des Vorsitzenden vom Parteipräsidium zur Diskussion verabschiedete Papier und die darin arg strapazierte Orientierung an »Nation«, »Patriotismus« etc. zeigt, dass es bei Gabriels Ausspruch offenbar nicht um einen Ausrutscher handelte.

Was SYRIZA anstrebt und bisher nicht gegenüber den Gläubigern durchsetzen konnte, war sozialdemokratisches Standardprogramm: Defizitvermeidung, höhere Steuereinnahmen, Investitionen in Wachstum und damit ermöglichte Schuldentilgung, Behebung der gravierendsten sozialen Missstände, Schutz des Öffentlichen vor Ausverkauf, mehr Rechte für Beschäftigte und Mieter. Slavoj Žižek hat mit Blick darauf zwei Hinweise gegeben, die in der Debatte eine wichtigere Rolle spielen sollten als bisher: Nicht von Radikalität waren die Vorschläge von SYRIZA geprägt, sondern von »vernünftiger pragmatischer Bescheidenheit«. Es ging, erstens, um Maßnahmen, »die vor vierzig Jahren Teil des sozialdemokratischen Standardprogramms gewesen wären«. Die SPD-Spitze hat dennoch im Lager derer agiert, die dieses Programm mit allen Mitteln verhindert haben.

Zweitens hat es Žižek als »ein trauriges Zeichen unserer Zeit« bezeichnet, »dass man heutzutage der radikalen Linken angehören muss, um dieselben Mittel zu befürworten«. Darin steckt eine entscheidende Frage: Wenn es richtig ist, dass der globale Kapitalismus »sich eine Rückkehr zum alten Wohlfahrtsstaat nicht leisten« kann, was hieße das dann für sozialdemokratische Politik? Und: Wer ist dann künftig deren Träger?

Es wird sich, wer diese Frage zu beantworten sucht, mit der These befassen müssen, dass wir es womöglich schon mit einem nicht mehr reparablen Auseinanderklaffen von »parteipolitischer Form« und »politischer Substanz« zu tun haben. Was damit gemeint ist?

Nicht zwischen den existierenden Parteien und Organisationen liegen die zentralen Differenzen, sondern die Konfliktlinien verlaufen quer dazu. Da aber die Parteien und Organisationen als Ganzes agieren, in ihnen dabei Logiken wirken wie der Fraktionszwang und eine mit den Funktionsweisen des Medienbetriebs korrespondierende Konfliktangst, werden politische Veränderungen innerhalb von bestehenden Parteien oft blockiert, werden weite Teile der in Parteien existierenden Meinungsvielfalt stimmlos gemacht und auf diese Weise deaktiviert. Um es konkreter zu formulieren: Es ist ja nicht so, dass in der SPD niemand für eine andere Griechenlandpolitik gewesen wäre. Aber die SPD als Partei hat nicht so agiert wie breite Teile der Basis oder prominente Exponenten, die sich für eine solidarische europäische Lösung eingesetzt haben.

Man braucht aber auch nicht bei der SPD stehen zu bleiben, das hier behauptete Problem existiert auch woanders, es ist seinem Wesen nach übergreifend. Es gibt ein Lager der Kritik an Austerität, ein Lager einer sozialen Idee von Europa, eines des keynesianisch-ökologisch inspirierten ökonomischen Denkens, das eine bestimmte Haltung zum Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus hat.

Dieses Lager kennt keine Parteigrenzen, man findet Vertreter überall. Es ist ein politisches Lager, das sich nicht vor der Erkenntnis drückt, die in der Einleitung zum Büchlein »Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm« und an vielen anderen Stellen und auf andere Weise, mit anderen Schwerpunkten formuliert wurde. Man könnte es das sozialdemokratische Lager nennen. Bleibt die vielleicht entscheidende Frage: Wo ist dieses Lager heute politisch zu Hause?

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