Der Terror im Wohnzimmer

Nacht der offenen Türen nach den Anschlägen von Paris

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.
Dichtmachen! Aufrüsten! Überwachen!, heißt es nach den Anschlägen auf allen Kanälen. Die Freiheit zu verteidigen, bedeute, Freiheiten aufzugeben. Viele Pariser aber reagierten in der Terrornacht ganz anders.

Die Anschläge vom Freitagabend hätten uns allen gegolten, heißt es jetzt. Von Politikern und Kommentatoren gesprochen, klingt dieser Satz allzu oft wie ein Befehl, der keinen Widerspruch dulden will: Weil es ein Angriff auf uns alle war, müssen wir nun auch geschlossen reagieren. Dichtmachen! Aufrüsten! Überwachen! Die Freiheit zu verteidigen, bedeute leider, Freiheiten aufzugeben.

Betroffen haben die Attentate tatsächlich ungleich mehr Menschen als die unmittelbaren Opfer. Das Massenpublikum, das unbeteiligt zu Beteiligten wurde, saß vor der Röhre. Ein Länderspiel am Freitagabend, das heißt wohl nicht nur für mich: dichtmachen (die Wohnungstür, denn die zehrende Woche ist um, und die Sorgen sollen draußen bleiben), aufrüsten (den Couchtisch mit Bier, den Wortschatz mit Schimpfvokabeln), überwachen (die Fußballspieler, die dem fern Sehenden nah sind, ohne ihn selbst beobachten zu können). Nirgendwo darf man sich so sicher fühlen und gleichzeitig so unsozial benehmen wie an einem Freitagabend in den eigenen vier Wänden. Darf? Durfte. Mit der Detonation in der ersten Halbzeit kam der Terror - noch ahnte man das Ausmaß nicht - live ins Wohnzimmer.

Zunächst verschwand Präsident Hollande von der Tribüne und hinterließ eine Verunsicherung: ein Attentatsversuch? Hatte er ihm gegolten? Dann entwich der Stimme des Kommentators Tom Bartels zusehends die Lust, über das Spiel zu reden - und das lag nicht an dessen sportlichem Verlauf. Erst war es nur der Tonfall, dann folgten, stockend, immer neue Informationen. Gejapste Häppchen, die nicht nur ihm im Halse steckenblieben. Aber das Spiel lief weiter, die meisten Zuschauer blieben, sangen gar, Steinmeier nahm wieder Platz auf dem Schalensitz und guckte wie immer: nichtssagend. Die Sportler schienen nichts zu wissen. Und kurz nachdem Bartels seinen Sendeverantwortlichen durch die Blume mitgeteilt hatte, dass er am liebsten sofort von seiner Aufgabe entbunden werden würde, fiel das 2:0 für Frankreich. Der Kommentator sagte pflichtbewusst die Namen der beteiligten Spieler auf.

Wer nicht vorher schon umgeschaltet oder auf Onlinemedien zugegriffen hatte, sah spätestens nach Spielende an den Gesten der Stadionbesucher, am blass-verunsicherten Gesicht des Moderators Matthias Opdenhövel, an Mehmet Scholls gequält gebeugter Haltung, dass Sport hier längst keine Rolle mehr spielte. In kurzen Abständen schossen nun immer bestürzendere Informationsfragmente in die gute Stube.

Irgendwann schaltete ich aus und drehte den Schlüssel der Wohnungstür ein weiteres Mal um. Zur selben Zeit jaulten in Paris die Sirenen, standen Taxis und U-Bahnen still, wussten verunsicherte Menschen nicht, wie (und ob) sie nach Hause kommen würden. Viele derer aber, die sich im Schutz ihrer Pariser Wohnungen halbwegs sicher fühlen konnten, reagierten auf den Ausnahmezustand alles andere als unsozial. Statt sich abzuschotten, öffneten sie ihre Türen für die Gestrandeten. Unter dem Hashtag #PorteOuverte luden sie sie zu sich ein - ohne zu wissen, wer da kommen würde. 480 000 Tweets soll es binnen weniger Stunden gegeben haben. Eindrucksvoller kann die Verteidigung der jetzt so oft beschworenen Freiheit nicht gelebt werden als durch den demonstrativen Verzicht auf - Dichtmachen, Aufrüsten, Überwachen.

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