Rumäniens neue Regierung kommt aus Brüssel
Mit der Umsetzung einer neuen politischen Kultur ist es nicht zum Besten bestellt
Nach den heftigen Protesten, die durch die Brandkatastrophe im Nachtklub »Colectiv« ausgelöst wurden und zum Rücktritt des sozialdemokratischen Premiers Victor Ponta führten, scheint die politische Lage in Rumänien sich zunächst beruhigt zu haben. Am Dienstag akzeptierte das Parlament den Vorschlag von Staatspräsident Klaus Iohannis und gab der neuen Regierung das Vertrauensvotum. Das Kabinett um den ehemaligen EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos besteht ausschließlich aus parteilosen Technokraten, rund zwei Drittel der Minister haben bisher in Brüssel gearbeitet.
Damit erfüllt Ciolos eine der Hauptforderungen der Zehntausenden, die in Bukarest und anderen Großstädten gegen die gesamte politische Klasse tagelang demonstriert haben. Doch für das neue Team sind die Herausforderungen enorm: Neben der grassierenden Korruption sorgen vor allem die chronische Unterfinanzierung des Staates und die Armut weiter Teile der Bevölkerung für gewaltige Probleme.
Zwar hinterlassen die Sozialdemokraten so schöne makroökonomische Zahlen, wie es seit der Wende noch nie der Fall war. Mit nur 0,7 Prozent des BIP wird das Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf einem rekordniedrigen Niveau liegen, während das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent eines der höchsten in der EU ist. Selbst die Handelsbilanz, die nach dem Kollaps der staatssozialistischen Industrie in den 90er Jahren stets negativ auffiel, nähert sich heute der Null, weil die rumänischen Exporte, allen voran die des Automobilkonzerns Dacia, boomen.
Der monatliche Durchschnittslohn hat mittlerweile 570 Euro erreicht, was unter den aktuellen Bedingungen der Deflation einen realen Kaufkraftgewinn von fast 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Nicht zuletzt durch die Rücknahme zahlreicher Sparmaßnahmen sorgte das Kabinett Ponta dafür, dass das Wachstum bei vielen Rumänen tatsächlich ankommt.
Aber all dies war für die überwiegend junge, urbane, gut ausgebildete Mittelschicht, die in den letzten Wochen auf die Straße ging, offenbar nicht genug: Sie fordert vor allem einen funktionierenden Staat, eine grundlegende Reform der politischen Kultur, Effizienz und Verantwortung statt Selbstbereicherung und balkanischer Leichtfertigkeit - »ein Land wie in Europa«, wie es auf den Transparenten hieß. Die gesamte politische Klasse hat nach dieser weit verbreiteten Auffassung stets versagt, diesen Forderungen gerecht zu werden, und nirgendwo war dieses Scheitern offensichtlicher als beim fehlerhaften Management der jüngsten Brandkatastrophe, das die Korruption und Inkompetenz zahlreicher Behörden offenlegte.
Doch effiziente Institutionen »wie in Europa« kosten Geld, und die Bereitschaft, den Preis dafür zu zahlen, ist gerade bei der urbanen Mittelschicht mehr als fragwürdig. Rumänien hat eine der niedrigsten Steuerraten in der EU, von der in erster Linie die Bukarester Yuppies enorm profitieren, während eine für europäische Verhältnisse extreme Ungleichheit zwischen Stadt und Land oder Arm und Reich von allen Regierungen als normal in Kauf genommen wird.
Die eigentliche Herausforderung der Ciolos-Regierung wird deswegen hauptsächlich darin bestehen, diesem wirtschaftsliberal gesinnten Teil der Gesellschaft, der auch Klaus Iohannis an die Macht brachte, zu erklären, dass etwa ein modernes Gesundheitswesen, das Brandopfer weder sterben lässt noch nach Westeuropa zur Behandlung schickt, irgendwie finanziert werden muss. Im Moment stehen die Chancen dafür allerdings schlecht: Das Programm des Kabinetts erwähnt Erhöhungen der Ausgaben für die sozialen Leistungen und Systeme mit keinem Wort und bleibt damit in der Tradition aller Vorgängerregierungen. Und selbst unter den Demonstranten war die Stimme derjenigen, die nicht nur weniger Korruption, sondern auch mehr Sozialstaat forderten, klar in der Minderheit. Wie eine neue politische Kultur so herbeigezaubert werden könnte, ist ein Rätsel.
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