Demokratie ist ein Apfelbaum

Journalist Heribert Prantl bei Gregor Gysi zu Gast im Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Feder taucht ins Tintenfass, kratzt auf dem Papier. Schreibfehler werden mit einem scharfen Messer weggekratzt. Die alte Frau schreibt, der Junge sitzt gebannt daneben. Die Großmutter schickt unzählige Briefe in alle Welt, auf der Suche nach einem ihrer Söhne, im U-Boot-Krieg gestorben, vermisst. Wo nur, wo? Viel Zeit vergeht. Immer wieder, immer weiter: Briefe. Das Grab wird gefunden - in den USA. »So erlebte ich erstmals eine Recherche.« Faszination. Bewunderung, wie etwas ans Licht gebracht wird.

Heribert Prantl, einer der führenden Journalisten des Landes, zu Gast bei Gregor Gysi am Deutschen Theater Berlin. Prantl, 1953 in Nittenau geboren, einer Kleinstadt nordöstlich von Regensburg. Sohn eines enorm sozialfreundlichen Oberamtsrates und Stadtkämmeres. Die Mutter war Schneiderin (»sie strickte mir die schönsten Pullover der Welt, nur bei den Hosen meldete ich irgendwann Protest an«). Von einer glücklichen katholischen Kindheit erzählt Gysis Gast - zufällig in der aktuellen Ausgabe der »Süddeutschen Zeitung«: eine Anzeige für Bücher Prantls, »Der Zorn Gottes«, »Alt. Amen. Anfang«, »Kindheit. Erste Heimat«. In der Annonce der Satz: »Es gibt nur zwei Themen, über die zu reden sich wirklich lohnt, die Liebe und der Tod«. Wenn Prantl von der Religion erzählt, erzählt er gegen die Selbstgenügsamkeit. Selbstgenügsam ist der Mensch, wenn er keine Leere in sich zulässt. Wer Gott beschwört, lässt Leere zu. Sonst bräuchte er ihn nicht. Der Programmzettel zum Gysi-Treff zitiert Prantls Vorliebe für »Festtagsleitartikel zu Weihnachten und Ostern«, wegen der besonderen Chance, »von oben auf die Dinge zu schauen«.

Er studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte. Mit einer preisgekrönten Dissertationsschrift zum Urheberrecht wird er zum Doktor der Rechte promoviert, wird Anwalt, Richter an bayerischen Amts- und Landgerichten. Ist Staatsanwalt. Muss eines Tages eine siebzigjährige Frau anklagen, die während der Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf in ihrer Handtasche Pflastersteine zu den Demonstranten trägt. Der Bürgersinn in der Großmutter. Der Widerstand im Hausfrauenrequisit. Prantl plädiert auf Einstellung des Verfahrens. Telefonischer Stafettenlauf bis ganz nach oben - und wieder zurück zu Prantl. Nein! »Da kam ich ins Grübeln« - die Tage solcher Staatsdienerschaft waren gezählt.

Er wechselt in den Journalismus, wird politischer Redakteur bei der »Süddeutschen Zeitung«, ist seit 1995 Ressortchef Innenpolitik, Mitglied der Chefredaktion. Und Autor zahlreicher Bücher, »mit solchen Leuten verlängert sich die Autorität einer flüchtigen Tageszeitung in eine etwas festere Form«, wie der Germanist Gert Ueding in einer Laudatio auf Prantl sagte. Der von vielen Redakteuren, da aus dem Staatsbeamtentum kommend, zunächst sehr misstrauisch beäugt worden war. Zumal die damalige Chefredaktion der SZ im Verdacht stand, das Blatt etwas mehr nach rechts zu rücken. »Und da kam ich« - ein Kombattant der Konservativen? »Ich fand nicht mal einen Schreibtisch für mich«. Nach den ersten linksliberalen Texten heißt es in der Chefetage, wohl ein wenig enttäuscht, man habe da offenbar einen »Wolf im Schafspelz« gekauft.

Gysi fragt nach Heimat, Prantl zitiert einen Dichter: Heimat ist das, was ich schreibe. Der Begriff müsse den Rechten weggenommen werden, »der schönste Patriotismus ist der Verfassungspatriotismus«. Immer, wenn der Publizist thematisch wird, sprengt ein leidenschaftlicher Klarton das behagliche, nicht unbedingt berlinkompatible Knödeln und Grummeln seiner bayerischen Dialektfärbung. Der Genießer, dem der Inspizient immer wieder weißen Wein nachgießt, sitzt zwar weiter im Sessel, scheint aber plötzlich mit allen Fasern seines Gemüts an einer Frontlinie zu stehen. Wird grundsätzlich grundgesetzlich. Gestrafft vornübergebeugt, redet er sich in Alarmbereitschaft. Es ist die Alarmbereitschaft seiner Texte, wenn demokratische Regeln missachtet, in Frage gestellt werden oder gar gekippt werden sollen. Das ist der spannendste Teil des Gesprächs, den Gysi durch kleinteilige biografische Fragenpusselei zu den Justiz-Passagen in Prantls Leben leider immer wieder etwas verschleppt.

Prantl verweist auf den legendär gewordenen Satz des TV-Kollegen Hans Joachim Friedrichs, ein guter Journalist mache sich mit keiner Sache gemein, und sei sie noch so gut. Natürlich wisse er, wie der Satz gemeint sei: als Distanz zu jeder Art von Lobbyismus, als Abkehr von jeder Gesinnungskumpanei, als Widerstand gegen eine Parteinahme, die nur immer die Schuld der anderen propagiert. Aber für sich genommen sei es »der dümmste Satz, den ich je gehört habe«. Selbstredend müsse der Journalist sich gemein machen - mit den geschundenen Interessen von Minderheiten, mit dem Sorgengeflecht der Ohnmächtigen und Sprachlosen. Der schlimmste Feind der Glaubwürdigkeit sei im übrigen der Zynismus.

Was ihn entflammt: wie die Unwilligkeit oder Unfähigkeit, die Bundesrepublik als Einwanderungsland zu begreifen, auf dem Rücken der Asylsuchenden ausgetragen wird. Wie das Asylrecht kastriert wurde. Wie man den Ostdeutschen bei der Vereinigung »den Stolz genommen hat«. Wie kurzsichtige, parteipolitisch motivierte Interessen oder autoritäre Neigungen den erreichten Stand an demokratischer Kultur gefährden.

»Angst ist eine Autobahn für Sicherheitsgesetze«, hat er einmal geschrieben. Auch zur Zeit gebe es eine hysterische Lust an der Bedrohung, die sei massenmedial attraktiv: »Stimmungen gegen Flüchtlinge werden regelrecht herbeigeschrieben!« Man hört Prantl und weiß beim Blick auf Pegida oder AfD einmal mehr: Im Marketing-Charakter wird der Mensch zum Verkäufer seiner selbst - nach dem Motto: Ich bin so, wie ihr mich braucht.

Es sei eine Schande, so Prantl, wie CDU und CSU ihr jeweiliges C verraten. Christlich? Dann möge man doch die Bibel wirklich lesen, »das ist von vorn bis hinten ein Flüchtlingsbuch«. Und wie diese Regierung Erfahrungen missachte: Die Bundesrepublik sei im Laufe der Jahrzehnte »ziemlich erfolgreich eine Heimat für Neubürger« geworden. Jetzt spricht er von »Apfelbaumdemokratie«. Wenn der Obstbauer das Altern eines Baumes spürt, beschneidet er ihn, versieht den Baum mit neuen Zweigen. Ein neues Blühen. Gelingende Mischungsexistenz.

Das Beispiel Prantl: Ziele gelten nichts, ein schönes Ziel kann jeder haben. Schreiben kann nicht jeder. Im mangelhaften Ausdruck stirbt zuerst das Ziel. Eine ganze Nacht, erzählt der Journalist, habe er sich einst mit seinem ersten Kommentar herumgequält (gegen das Vermummungsverbot und die Kronzeugenregelung) und dann bilanziert: Wenn’s weiterhin so zäh bleibe, werde es wohl nichts mit der neuen Profession. Es ging ihm bald schneller von der Hand, nicht im Kopf: Die zähe Suche nach dem gültigen Wort blieb. Man findet es nie. Seltsamer Widerspruch: gültige Worte finden zu wollen in einem Metier, in dem kein Gedanke, keine Wahrheit alleingültig sind. Natürlich verändere Journalismus nicht die Welt, Gesprächslagen und -themen sehr wohl. »Artikel als Anlass« - um Diskussion, Irritation auszulösen.

Er nennt die bayerische SPD »noch schwächer als die LINKE im Bund«. Plädiert vehement, und jetzt mit einem gütigen Lächeln, für »alle möglichen familiären Konstellationen, in denen es einem Kind gut geht«. In welcher Form sich Geschlechter zur Familie bilden, »muss dem Recht egal sein, Familie ist der Ort, wo Kinder zu Ende geboren werden können«. Sein schönster Satz an diesem Vormittag.

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