Berliner Geschichten
Ein Buch sorgt für Unruhe. Teil zwei der nd-Serie über die DDR im Jahr 1976
Damals war Literatur noch gefährlich, hatten die Dichter noch den Anspruch, in das Leben der Menschen hineinzuwirken: Im Januar 1976 berichtete das MfS in einer an Erich Honecker adressierten Information über »weitergehende Aktivitäten von Schriftstellern der DDR zur Herausgabe der Anthologie ›Berliner Geschichten‹ unter Ausschaltung der Verlagslektoren«. Die Schriftsteller Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade planten einen Sammelband mit Prosatexten - ein unglaublicher Vorgang, der für Unruhe bis weit in die Parteispitze sorgte.
Kennengelernt hatten die drei sich bei einem Fernkurs am Literaturinstitut Johannes R. Becher. Und irgendwann hatten sie einen Rundbrief an die Kollegen geschickt und darin um Textbeiträge gebeten (unter anderem Günter de Bruyn, Franz Fühmann, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Stefan Heym und Günter Kunert, aber auch die damals noch unbekannte Elke Erb).
Es hätte ein erfolgreiches Jahr werden können: 1976 wurde der Palast der Republik eröffnet. Bei den Olympischen Sommerspielen errang die DDR vierzig Goldmedaillen; den zweiten Platz in der Länderliste konnten auch die »Bonner Ultras« nicht streitig machen. Die angeblich zehntstärkste Industrienation erschien als Staat gewordener Fortschritt. Und warum sollte man dagegen opponieren, gegen Naturgesetze ankämpfen?
Bei den Wahlen zur Volkskammer stimmten am 17. Oktober 99,86 Prozent für die Einheitsliste. Erich Honecker löste Willi Stoph im Amt des Staatsratsvorsitzenden ab. Unter Führung der Arbeiterklasse sollte das Aufbauwerk der entwickelten sozialistischen Gesellschaft planmäßig voranschreiten. Und doch war 1976 eine Zäsur in der Geschichte der DDR. Ein geistiger Erosionsprozess nahm seinen Anfang, der schließlich im Herbst ’89 den SED-Machtapparat einstürzen ließ.
»neues deutschland« zeichnet die Wendepunkte dieses Jahres in einer großen Serie nach. Karsten Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren. Er hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften studiert und über »Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976« promoviert. Krampitz initiierte gemeinsam mit Peter Wawerzinek die Trinkerklappe in Wewelsfleth/Schleswig-Holstein, gründete eine Bettelakademie und besetzte mit Obdachlosen und Junkies Berliner Nobelhotels. 2004 erhielt Krampitz das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin. In Klagenfurt wurde er 2009 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, im folgenden Jahr war er Klagenfurter Stadtschreiber. Er arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Publizist. Im kommenden Jahr erscheint im Verbrecher Verlag sein Buch: »1976: die DDR in der Krise«. nd
»Sehr geehrte(r)…
wir möchten Sie zu einer Anthologie einladen, die den Arbeitstitel trägt ›Berliner Geschichten‹. Dabei wollen wir uns nicht unbedingt auf das Genre festlegen; Sie können etwas Autobiografisches schreiben oder auch etwas Fiktives, nur sollte der Zeitraum der Handlung begrenzt sein - sagen wir: vom Kriegsende bis zur Gegenwart oder ein bisschen darüber hinaus - und die politische Geografie - also: Berlin - Hauptstadt der DDR, eingeschlossen jener Probleme, die sich aus der besonderen politischen Situation der Stadt ergeben …«
Keine Zensur?
In der DDR-Gesellschaft dieser Jahre gab es keine Debatten- und Streitkultur. Dafür fehlten die Strukturen, fehlte die kritische Öffentlichkeit, wie sie Habermas als »Sphäre der Kritik« definiert. Erst in den 1980er Jahren sollte im Raum der evangelischen Kirche eine kritische Gegenöffentlichkeit entstehen. Zu Beginn der Honecker-Ära aber war der öffentliche Raum in jeder Hinsicht SED-dominiert.
Woran es neben der kritischen Öffentlichkeit ebenso fehlte, war, und das ist durchaus bemerkenswert, eine offizielle Zensurbehörde. Manche Künstler werden sich eine solche gewünscht haben; irgendein Büro oder Institut, das wenigstens für Klarheit gesorgt hätte, gegen das man sich hätte wehren können.
Von Klaus Höpcke, in den Jahren 1973 bis 1989 Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Kulturministerium, sind keine direkten Konfrontationen mit Schriftstellern überliefert. War es doch Aufgabe der Verlagslektoren, die Wünsche der Funktionäre zu kommunizieren und durchzusetzen. Bücher, die man hätte zensieren müssen, sollten gar nicht erst geschrieben werden. Und selbstredend waren Autor und Lektor gemeinsam daran interessiert, so zügig wie möglich die Druckgenehmigung zu erhalten - erteilt von der besagten Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, wo das Manuskript dann einem Genehmigungsverfahren unterzogen wurde.
Die »Berliner Geschichten« liefen nun darauf hinaus, dass der Band ohne das übliche Lektorat zustande kommen sollte. Plenzdorf, Schlesinger und Stade hatten ihr angedachtes Vorgehen im Anschreiben folgendermaßen formuliert: »Herausgeber der Anthologie sollen alle Beteiligten sein. Das heißt, dass jeder Autor das Recht hat auf Kenntnis aller Beiträge. Danach kann er Einspruch gegen andere Texte erheben. Danach kann er auch entscheiden, ob er seinen Text zurückziehen möchte. Erst wenn der von allen Beteiligten akzeptiert worden ist, wird er einem Verlag angeboten.«
Und tatsächlich: Das Echo war - bis auf eine Ausnahme - durchweg positiv. Fritz Rudolf Fries zeigte sich angetan, schrieb, ihm gefalle das Demokratische. Er wolle sich beteiligen und schlug seinerseits Uwe Brüning als weiteren Autor vor. Günter de Bruyn fand das Projekt rühmenswert und empfahl Karl Mickel, Bernd Jentzsch, Günter Kunert, Irmtraud Morgner und Sarah Kirsch. Christa Wolf lobte das Verfahren, es erhebe »eine Gruppe von Autoren zu einem gemeinsamen Subjekt gegenüber einem Verlag«. Allein Franz Fühmann erteilte dem Projekt eine Absage. Er habe gar keine Beziehung zu Berlin, »nicht einmal eine ausgeprägt negative«. Vor allem aber sei ihm der Gedanke, Literatur auf Grundlage von Abstimmungen, Beschlüssen und Diskussionen zu machen, ein Selbstmordmotiv. »Ich bin für alte solide, ehrliche Ausbeutung …«
Führmanns Bedenken waren nicht ganz von der Hand zu weisen: Beim ersten Treffen der Beteiligten am 10. September 1975 - lediglich zehn von achtzehn Autoren waren erschienen - »haben sich Gert Neumann und Günter Kunert so gefetzt«, erinnerte sich Klaus Schlesinger. Die Animositäten, die einige Autoren untereinander hatten, hatte er völlig unterschätzt. Immerhin aber umfasste das Werk bereits 200 Manuskriptseiten. Die Textsammlung erschien ihm »erfreulich unausgewogen«, sie reichte von der Shortstory bis zum Sprachexperiment, von der Groteske bis zur Impression. Doch warum all die Aufregung?
»... diffamierende Darstellung«
Bereits im November 1975 hieß es in einer MfS-Information, dass eine »undifferenzierte Drucklegung« keinesfalls möglich sei. Bei einigen Beiträgen handle es sich um »eine offen feindliche, den Sozialismus diffamierende Darstellung«. Die achtzehn Texte seien thematisch zu einer Grundidee zusammengefasst: Berlin, die Hauptstadt der DDR, werde als »fruchtbarer Brennpunkt von individuellen Schicksalen sowie als Prüfstein für den sozialistischen Staat« geschildert. Dabei sei ein ausgesprochen kritischer Grundtenor vorherrschend, der bis zur antisozialistischen Aussage reiche.
Günter de Bruyns »Freiheitsberaubung« hätten die Gutachter vermutlich noch durchgewunken, trotz der drastischen Beschreibung Berliner Wohnverhältnisse - eine Ratte im Toilettenbecken!
»Er öffnet, noch im Schlafanzug, den Deckel, will sich setzen, da starrt das kotverschmierte, nasse Vieh ihn an, springt in die Jauche zurück, paddelt, die Schnauze über Wasser, er spült, es ist verschwunden, taucht wieder auf, erklimmt die Plattform, die nächste Spülung wird erst in drei bis vier Minuten möglich, weil der Behälter sich erst mit Wasser füllen muss. Wer kann schon mit dem Feuerhaken einschlagen auf das Tier? Auch ist das Becken aus Porzellan.« Der Polizist, der einer völlig anderen Sache wegen herbeigeeilt ist, schlägt als Instrument die Kohlenzange vor: »fest zupacken, dann ersäufen«.
Eine buchstäbliche Grenzverletzung beging dagegen Stefan Heym. In seiner Erzählung »Richard« berichtet eine Berliner Arbeiterin voller Kummer von den Besuchen im Jugendwerkhof, bei ihrem Sohn. Wegen versuchter Republikflucht hatte die Polizei den Jungen verhaftet, woraufhin ihn das Gericht »nur« wegen Verstoßes gegen das Passgesetz in den Jugendknast einwies. Mit der Schlusspointe, die an dieser Stelle nicht verraten wird, verhöhnte Stefan Heym die Grenzmaßnahmen im SED-Staat wie nur er es konnte. So dass die MfS-Expertise in seinem Text »das Zentrum der politisch-ideologischen, kritisch-negativen Aussage« sah.
Gerüchte und Gespräche
Viele Jahre später erinnerte sich Klaus Schlesinger an erste Anzeichen einer »eigenartigen Kunde«, die in der Sprache des MfS »Desinformationen« und im Alltag »Gerüchte« genannt wurden. Irgendwann im Frühjahr 1976 habe es auf einmal geheißen: »Wir würden mit unserer Anthologie eine Plattform bilden wollen. Wir hätten vorgehabt, sie im Selbstverlag herauszugeben. Wir stünden schon mit dem westlichen Molden-Verlag in Verbindung, der das Buch mit fünfzigtausend Exemplaren auf den Markt werfen sollte. Es gäbe Streit unter uns. Viele Beteiligte hätten sich schon distanziert.«
Der Schriftsteller und Literaturhistoriker Joachim Walther, der im Literaturverlag »Der Morgen« Martin Stades Lektor war und von ihm auch in den Autorenkreis der »Berliner Geschichten« geholt wurde, hat nach dem Ende der DDR vier Jahre lang in den MfS-Akten zur Staatssicherheit im DDR-Literaturbetrieb geforscht. Walther geht davon aus, dass sich die Stasi erst einmal auf ganz bestimmte Autoren konzentrierte: »Da das MfS überlegte, wer aus dieser als feindlich eingeschätzten Gruppe herausgebrochen und eventuell als trojanisches Pferd innerhalb der Gruppe verwendet werden könnte, kam man unter anderem auf Uwe Kant«, den jüngeren Bruder Hermann Kants. Als Kinder- und Jugendbuchautor und zweifacher Nationalpreisträger III. Klasse war Uwe Kant schon in den Jahren 1957 bis 1967 für das MfS als Geheimer Informator »Hegel« tätig, hatte sich dann aber der Zusammenarbeit entzogen. Im Jahr 1976, so Joachim Walther, habe die Stasi einen erneuten Versuch unternommen, Uwe Kant zur Mitarbeit zu gewinnen - dies mit Hilfe des Inoffiziellen Mitarbeiters Sicherheit (IMS) »Martin«.
Joachim Walthers »Sicherungsbereich Literatur« gilt mit seinen fast 900 Seiten als Standardwerk zu diesem Thema. Für Walther besteht nicht der geringste Zweifel, dass sich hinter »Martin« der Schriftsteller und Kulturfunktionär Hermann Kant verbirgt. Das vorhandene Quellenmaterial sei nach den Kriterien des Stasi-Unterlagen-Gesetzes für die justiziable Benennung eines Inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit eindeutig. Hermann Kant, seinerzeit noch Vizepräsident des Schriftstellerverbandes, habe an exponierter Stelle dem MfS geholfen, die »Berliner Geschichten« scheitern zu lassen.
Über ein Gespräch vom 27. November 1975 mit dem IMS »Martin« schreibt sein Führungsoffizier, Hauptmann Pönig: »Der Treff diente der Instruierung des IM, um diesen zielgerichtet zum operativen Schwerpunkt ›Selbstverlag‹ einzusetzen.« Dem Informellen Mitarbeiter »Martin« wurde erklärt, »dass es uns darauf ankommt, das Vorhaben ‚Anthologie’ zum Scheitern zu bringen, indem es in sich selbst zusammenbricht«. Woraufhin sich »Martin«, über dessen Identität keine Zweifel bestehen, geäußert haben soll, »dass er uns in dieser Frage voll unterstütze. Er garantierte uns dafür, dass Uwe Kant sich von diesem Unternehmen distanziert. (…) Seiner Ansicht nach müsse Uwe Kant etwas am Kopf haben. Er werde ihn ordentlich Maß nehmen, da hier die Toleranz und Freundschaft aufhört.«
Zwei Wochen später, am 12. Dezember 1975, erzählt IMS »Martin« demselben Hauptmann Pönig, er habe mit Uwe Kant gesprochen, ihm die politische Hinterhältigkeit und den feindlichen Charakter der Anthologie dargelegt. Und: »Nachdem der IM das feste Versprechen von Uwe Kant hatte, erklärte er diesem, dass es zu wenig sei, nur aus dem Unternehmen auszusteigen; dass es darauf ankomme, noch andere zu beeinflussen, den gleichen Schritt zu gehen. Uwe Kant erklärte sich damit einverstanden.« Demnach soll Uwe Kant selbst den Vorschlag gemacht haben, bis zum nächsten Autorentreffen zu warten, »still zu sein« und dann aber »in Gegenwart der anderen Autoren auf die Feindlichkeit des Beitrages von Stefan Heym hinzuweisen und zu fordern, dass entweder der Beitrag von Heym aus der Anthologie entfernt wird, oder er sich von dem Vorhaben distanziert und seinen Beitrag zurückzieht«. Und damit Uwe Kant keinen Fehler mache, soll IMS »Martin« mit ihm vereinbart haben, sich vor dem weiteren Schritt mit ihm zu beraten.
Beratungen ganz anderer Art erlebten in den folgenden Wochen die meisten Autoren der Anthologie. Das MfS sorgte im Bündnis mit dem Schriftstellerverband dafür, dass sie »Gespräche über ihr Schaffen« zu führen hatten. Wobei sich das staatliche Gegenüber nach dem Renommee des jeweiligen Schriftstellers richtete: Die Genossin Ursula Ragwitz, Leiterin der Abteilung Kultur im ZK der SED, und Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann sollten das Gespräch mit Ulrich Plenzdorf führen. Gerhard Henniger, 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, hatte mit Günter Kunert und Rolf Schneider zu reden. Erika Büttner, die für die Nachwuchsarbeit zuständige Mitarbeiterin im zentralen Vorstand des Schriftstellerverbandes, sollte mit Jürgen Leskien, Helga Schubert und Hans-Ulrich Klinger sprechen etc. Und so verlief das Anthologieprojekt im Sande.
Gewinner
Für einen der Herausgeber sollte sich das Scheitern noch lohnen: Zwei Jahre später gewann Ulrich Plenzdorf beim Klagenfurter Wettlesen den Ingeborg-Bachmann-Preis mit der Prosageschichte »kein runter kein fern«. Volker Hage schrieb in der »FAZ« damals, mit Ulrich Plenzdorf aus Ost-Berlin hätten die Veranstalter »einen Preisträger von Rang und Namen vorzuweisen, der den Preis nicht weniger ziert als dieser ihn …«
Plenzdorf hatte die Erzählung ursprünglich für die »Berliner Geschichten« vorgesehen. Wäre die Anthologie 1976/77 erschienen, hätte er einen anderen Text vortragen müssen. Das Statut des Bachmann-Wettbewerbs sieht vor, dass die Beiträge auf jeden Fall unveröffentlicht sein müssen. Das Preisgeld betrug seinerzeit immerhin 100 000 Schilling, also 14 000 DM!
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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