Feindwärts der Sperranlagen
Der Tod des Michael Gartenschläger. Teil III der nd-Serie über das Jahr 1976 in der DDR
Welch eine Chuzpe. Im April 1976 hatte Michael Gartenschläger der DDR kurz nacheinander zwei Splitterminen gestohlen. Von der westdeutschen Seite aus war der 32-jährige an die Grenze herangetreten, mit einer Leiter auf den Metallgitterzaun gestiegen und hatte die Selbstschussapparate abmontiert. Zuvor hatten Gartenschläger und sein Freund Lothar Lienicke bereits in der Nacht vom 27. zum 28. März eine solche »SM-70« explodieren lassen.
»Der Spiegel« brachte für viel Geld die Story, die dann aber irgendwie doch unterging. Und auf einmal sei da so ein »Touch ins Irrationale« gewesen, erzählte viele Jahre später der zuständige Redakteur. Manfred Müller kannte den ehemaligen Brandenburg-Häftling erst seit kurzer Zeit »so als rational kalkulierenden Typ«. Mit einem Mal aber sei das Rationale verschwunden.
Es hätte ein erfolgreiches Jahr werden können: 1976 wurde der Palast der Republik eröffnet. Bei den Olympischen Sommerspielen errang die DDR vierzig Goldmedaillen; den zweiten Platz in der Länderliste konnten auch die »Bonner Ultras« nicht streitig machen. Die angeblich zehntstärkste Industrienation der Welt erschien als Staat gewordener Fortschritt. Und warum sollte man dagegen opponieren, gegen Naturgesetze ankämpfen? Bei den Wahlen zur Volkskammer stimmten am 17. Oktober 99,86 Prozent für die Einheitsliste. Erich Honecker löste Willi Stoph im Amt des Staatsratsvorsitzenden ab. Unter Führung der Arbeiterklasse sollte das Aufbauwerk der entwickelten sozialistischen Gesellschaft planmäßig voranschreiten. Und doch war 1976 eine Zäsur in der Geschichte der DDR. Ein geistiger Erosionsprozess nahm seinen Anfang, der schließlich im Herbst ’89 den SED-Machtapparat einstürzen ließ.
»neues deutschland« zeichnet die Wendepunkte dieses Jahres in einer großen Serie nach. Karsten Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren. Er hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften studiert und über »Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976« promoviert. Krampitz initiierte gemeinsam mit Peter Wawerzinek die Trinkerklappe in Wewelsfleth/Schleswig-Holstein, gründete eine Bettelakademie und besetzte mit Obdachlosen und Junkies Berliner Nobelhotels. 2004 erhielt Krampitz das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste Berlin. In Klagenfurt wurde er 2009 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, im folgenden Jahr war er Klagenfurter Stadtschreiber. Er arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Publizist. Im kommenden Jahr erscheint im Verbrecher Verlag sein Buch: »1976: die DDR in der Krise«. nd
Nächste Woche: Der IX. Parteitag und wie die Kirche am SED-Programm mitschrieb.
Als Gartenschläger ihm erklärt habe, noch eine dritte SM-70 abzumontieren, will der Journalist ihm geantwortet haben: »Also wir brauchen’s nicht. Das Ding ist untersucht. Die ganze Welt weiß: Es sieht so aus; es funktioniert so. Ich würde das nicht machen an Ihrer Stelle.«
»Die Zeit« schrieb nach seinem Tod: »Gartenschläger hatte auf einem 150 Meter breiten Grenzstreifen bei Büchen nahe der Unterelbe zweimal in knapp aufeinander folgenden Nächten je einen Schießtrichter abmontiert. Dass der dritte Versuch an derselben Stelle, wiederum wenige Tage später, fatal enden musste, war vorauszusehen. Wenn Selbstmord auch ist, den lauernden Mördern in die Arme oder vor die Maschinenpistolen zu laufen, dann hat dieser Mann Selbstmord begangen.«
»Neues Deutschland« brachte am 3. Mai eine ADN-Meldung: »Bewaffneter Angriff gegen Grenzsicherungskräfte der DDR: In der Nacht vom Freitag, dem 30. April 1976, zum Sonnabend, dem 1. Mai 1976, wurde von einem aus der BRD in das Territorium der DDR eingedrungenen Provokateur in militärischem Sperrgebiet im Raum Hagenow, Bezirk Schwerin, bei dem Versuch, Grenzsicherungsanlagen zu zerstören, ein bewaffneter Anschlag auf Grenzsicherungskräfte der DDR verübt. Bei dem vom Verbrecher eröffneten Schusswechsel wurde der Täter schwer verletzt. Er ist inzwischen seinen Verletzungen erlegen. In seinem Besitz befanden sich eine Pistole, 7,65 mm vom Typ ›Espana star‹, mit zwei Patronenmagazinen und weitere Tatwerkzeuge. Zur Tarnung seines Vorgehens trug der Täter dunkle Kleidung und hatte sich sein Gesicht schwarz gefärbt. Er hatte keinerlei Ausweispapiere bei sich und ist in das Gebiet eingedrungen, in dem bereits mehrfach schwere Anschläge gegen die Staatsgrenze der DDR verübt worden sind.«
Im November 1999 sahen sich drei der damaligen Schützen vor dem Schweriner Landgericht angeklagt - ein Versicherungsvertreter, ein Bademeister und ein Hilfsarbeiter. Alle drei waren ursprünglich Angehörige einer Sonderkompanie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und hatten gegenüber der Staatsanwaltschaft zugegeben, am 30. April 1976 gegen 23.45 Uhr auf Michael Gartenschläger geschossen zu haben. Als Hauptbelastungszeuge trat mit dem früheren Unterfeldwebel Herbert Li. nun aber ausgerechnet der Mann auf, durch dessen Schüsse Gartenschläger vermutlich ums Leben gekommen war, so die Gutachter - die eigentlichen Todesschüsse waren jedoch nie Gegenstand einer Gerichtsverhandlung.
Die Vorgeschichte
Als Siebzehnjähriger war Michael Gartenschläger in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) hatte ihn und vier andere Jugendliche verschiedener Delikte für schuldig befunden: »Staatsfeindliche Hetze und Propaganda«, »Diversion« und »konterrevolutionäre Bandenbildung«. Nach dem Mauerbau im August 1961 hatte die Clique in Strausberg, östlich von Berlin, Propagandaschilder mit Farbflaschen beworfen und Häuserwände mit Protestlosungen bemalt: »Macht das Tor auf« oder »Deutschland den Deutschen«. Dem nicht genug, hatten die Jugendlichen noch eine LPG-Scheune in Brand gesetzt.
Als Gartenschlägers Schwester nach der Wiedervereinigung postum eine strafrechtliche Rehabilitierung erwirken wollte, gelang ihr lediglich ein Teilerfolg: Das dafür zuständige Gericht erklärte das Urteil aus dem Jahr 1961 zwar für rechtswidrig - aufgehoben wurde es jedoch nur, soweit Michael Gartenschläger zu mehr als drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Erst nach zehn Jahren Haft hatte die Bundesrepublik Gartenschläger freikaufen können, für 40 000 DM. Und soweit bekannt, soll er die Freiheit im Westen erst einmal in vollen Zügen genossen haben. Mit dem gleichfalls freigekauften Lothar Lienicke reiste er quer durch Westeuropa. In ihrem Gartenschläger-Buch schreibt Freya Klier von mehreren Italien-Aufenthalten. »Das Geld für die Reise finanziert Michael mit kleinen Geschäften: Er kauft in Italien Produkte, die es in Deutschland nicht gibt und verhökert diese nach seiner Rückkehr gewinnbringend.«
Was denn für Produkte? Der IM »Werner Höfer«, der seinerzeit mit Gartenschläger im selben Haus wohnte, klärte auf: »G. beschäftigt sich jetzt speziell mit Waffenhandel, indem er nach Italien fährt und mit geklauten oder ausgeliehenen Pässen Waffen kauft und sie illegal in die BRD einführt und im Bundesgebiet verkauft. Ich selbst habe Waffen gesehen.« Wovon hat er sonst noch gelebt? Freya Klier spricht von einem Tankstellenjob. Soweit bekannt, war Gartenschläger an über dreißig Fluchthilfen aus der DDR beteiligt. Zu welchem Preis?
Räuberpistole
Geld hatte auch »Der Spiegel« bezahlt: zwölftausend Deutsche Mark an Gartenschläger für die erste SM-70-Splittermine. Da reichte es nicht aus, das unmenschliche Grenzregime der DDR anzuprangern. Den SED-Staat galt es in eine direkte Linie zu setzen mit dem Dritten Reich. Mit Verweis auf einen angeblichen Journalisten, der einen Leserbrief (!) im Rheinischen Merkur geschrieben hatte, wurde als Erfinder der Selbstschussapparate ein ominöser SS-Sturmbannführer namens Erich Lutter ausgewiesen. Nach 1945 hätten die Sowjets seine noch nicht ausgereiften Konstruktionspläne der SED überlassen - eine Räuberpistole und gänzlich unnötige Dämonisierung des Honecker-Staates. Für Historiker, die zur SBZ-/DDR forschen, wäre ein solcher Quellenfund als Ereignis der Mondlandung gleichgekommen. Hendrik Thoß hat zur Geschichte der DDR-Westgrenze eine fundierte Studie vorgelegt. Er schreibt über die »Spiegel«-Mär: »Auf Basis der überlieferten Dokumente der DDR-Grenztruppen und des Ministeriums für Nationale Verteidigung lassen sich diese Behauptungen nicht nachvollziehen.«
Kurze Zeit nach Erscheinen des »Spiegel«-Artikels bekundete die in Westberlin ansässige »Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V.«, heute Trägerverein des Museums am Checkpoint Charlie, ebenfalls Interesse, in den Besitz einer SM-70 zu kommen und stellte Gartenschläger dafür eine größere Geldsumme in Aussicht. Was sich heute jeglicher Vorstellung entzieht: Michael Gartenschläger ging allen Ernstes ein zweites Mal an dieselbe Stelle der innerdeutschen Grenze, am großen Grenzknick östlich Bröthen - in der Nacht zum 23. April 1976! Und während sein Freund Lienicke zum wiederholten Male Schmiere stand, gelang es Gartenschläger noch einmal, einen solchen Selbstschussapparat von der Betonsäule des Metallgitterzaunes abzuschrauben.
Diese zweite SM 70 verkaufte er am 26. April 1976 zum Preis von 3000 DM an die »Arbeitsgemeinschaft 13. August«, in deren Museum am Checkpoint Charlie der Apparat bis heute ausgestellt ist. An Gartenschläger selbst aber erinnert in den dortigen Räumen nichts. Stattdessen erfährt der Besucher, dass die »Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V.« davor warnte, »jeder Demontageversuch wäre ein tödliches Risiko«.
Das Ende
Spätestens mit der zweiten Aktion waren beim MfS sämtliche Räder in Bewegung. Der Funkverkehr des Bundesgrenzschutzes wurde von der Funkaufklärung der DDR-Grenztruppen abgehört und von der Staatssicherheit ausgewertet. Immer wieder wurde Gartenschläger an dieser einen Stelle der Grenze angetroffen und von Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS) verwarnt. Ein guter Freund hatte der Stasi sogar berichtet, dass er beim ersten Diebstahl nicht nur eine Pistole, sondern auch eine Eierhandgranate mit sich geführt habe, »zur Absicherung«.
Und dann geschah es tatsächlich: In der letzten Aprilnacht wagte sich Michael Gartenschläger ein drittes Mal an denselben Grenzabschnitt nahe der Grenzsäule 231. Dass er dabei gar keine Granate dabeihaben würde, konnten die Soldaten nicht wissen. Ihre Motivation, den vermutlich schwer bewaffneten »Provokateur« festzunehmen, wird sich buchstäblich in Grenzen gehalten haben (viereinhalb Monate zuvor waren an anderer Stelle zwei DDR-Grenzer hinterrücks erschossen worden).
Aus dem Westen kommend, war Gartenschläger in gebückter Haltung in Richtung Sperranlagen geschlichen. Erst als er sich zehn bis fünfzehn Meter an den Zaun herangewagt hatte, also »feindwärts der Sperranlagen« bereits auf DDR-Gebiet stand, will ihn der spätere Zeuge Herbert Li. entdeckt haben. Der damalige Unterfeldwebel will sofort nach der Maschinenpistole gegriffen und dabei ein metallisches Geräusch verursacht haben. Dieses Klicken nun soll Gartenschläger gehört und im selben Moment mit seiner Pistole das Feuer eröffnet haben. Das Landgericht Schwerin erklärte später in dubio pro reo: »Da der Zeuge Li. und die drei Angeklagten dieses Schießen als Angriff betrachteten, schossen sie zurück. Als erster reagierte dabei der Zeuge Li. Er schoss ca. 3-9 Schuss Dauerfeuer«. Die drei späteren Angeklagten schlossen sich dem Dauerfeuer ihres Kameraden an. Gericht und Staatsanwaltschaft gingen bis zu diesem Punkt zugunsten der Angeklagten und des Zeugen Li von einer Notwehrsituation aus.
Nach dem Schusswechsel war Ruhe eingetreten, aber es war nur eine Feuerpause. Der Zeuge Li. soll nach vorn gerobbt sein, dem schwer verletzten Gartenschläger die rechte Hand hochgehoben und sinngemäß gerufen haben: »Der lebt noch!« Daraufhin habe der Zugführer L. gerufen: »Weg da!« Kurz darauf hätten die drei Angeklagten, nicht aber der Zeuge Li., auf Gartenschläger ein zweites Mal geschossen, um ihn »aus niederen Beweggründen« zu töten - so die Staatsanwaltschaft.
Die drei Angeklagten hielten vor Gericht an ihrer Version fest, die besagte zweite Schussfolge nicht auf den am Boden liegenden Körper, sondern in Richtung Westen gefeuert zu haben, wo sie noch weitere »Grenzprovokateure« vermutet hätten, was tatsächlich auch der Fall war. Die Gartenschläger-Freunde Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe gaben vor Gericht an, dass sie bei ihrer überstürzten Flucht das Gefühl gehabt hatten, von der DDR-Seite aus beschossen zu werden. Beide waren sie bewaffnet, und Uebe selbst hatte auch einen Schuss abgegeben.
Gartenschlägers Leichnam wurde noch in der Tatnacht in die Gerichtsmedizin Schwerin gebracht. Die Obduktion erfolgte wie üblich, allerdings unter strenger Geheimhaltung, nur im Beisein von MfS-Angehörigen. Der Körper wies neun Schussverletzungen auf. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass bereits der erste Schuss das Herz getroffen hatte.
In der Urteilsbegründung der 3. Strafkammer des Landgerichts Schwerin vom 24. März 2000 ist von einem Mangel an Beweisen nicht die Rede. Im letzten Satz heißt es: »Die Angeklagten waren daher aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.« Der Bundesgerichtshof hat am 24. April 2001 die Revision als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils keine Rechtsfehler ergeben hatte.
»Die Zeit« schrieb 1976 über das Ende Gartenschlägers: »Ein solcher Tod ist sinnlos. Grenzen, die durch staatlichen Tötungsbefehl bewahrt werden, lassen sich nicht mit dem Opfer einzelner Leben überwinden. Sie können nur fallen, wenn die Gründe für ihre Errichtung beseitigt sind - und darauf werden wir wohl noch lange warten müssen.« Dreizehn Jahre.
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