Rot-Rot-Grün als »historischer Kompromiss«?

Gysi plädiert für Mitte-Links als Bollwerk gegen Rechtsentwicklung / SPD-Fraktionsvize winkt ab - und wirft Linkspartei rechte Positionen vor / Debatte auch in der Linken: Brie versus Ernst

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 9 Min.

In Europa haben rechte Parteien immer öfter Erfolg – die Linke ist entweder zu schwach, dem etwas entgegenzusetzen, oder es fehlt wie in Deutschland an Mehrheiten mit der Mitte, die als Bollwerk gegen die Rechtsentwicklung wirken könnten. Kann sich das ändern? Darüber wird nun immer lauter diskutiert – Politiker der Linkspartei plädieren für Rot-Rot-Grün als Sammlungsbewegung gegen Rechts. Doch das stößt auch in der Linken auf Skepsis.

Der frühere Linksfraktionschef Gregor Gysi hat es jetzt als eine »Pflicht« bezeichnet, dass die Linkspartei »zusammen mit SPD und Grünen ein linkes Projekt gegen die jetzige Entwicklung Europas und Deutschlands« entwickelt. Gysi sagt der Polit-Illustrierten »Spiegel«, in allen drei Parteien gebe »es genügend Leute, die das nicht wollen. Aber die Linke hat gerade jetzt eine große Verantwortung. Sie muss begreifen, dass wir alle verlieren werden, wenn es uns nicht gelingt, ein funktionierendes, überzeugendes, linkes Projekt gegen die Rechts-Entwicklung in Europa und in Deutschland auf die Beine zu stellen.«

Gysi verwies ausdrücklich auf die Zeit vor dem Sieg des NS-Regimes über die Demokratie. »Vor 1933 war es ein Versagen von KPD und SPD, dass sie nicht mal im Ansatz Gemeinsamkeiten gegen die Nazis gefunden haben«, so der langjährige Politiker. »Jetzt stehen wir vor einer neuen schwierigen Situation, weil die Gefahr droht, dass sich ganz Europa einschließlich Deutschland nach rechts verschiebt.« Mit Blick auf die offenkundigen Schwierigkeiten einer rot-rot-grünen Kooperation auf Bundesebene sagte Gysi: »Kann sein, dass es scheitert. Aber wir sind verpflichtet, es zumindest zu versuchen, wie es in Portugal geschieht.«

SPD-Fraktionvize: Linkspartei auf einer Seite mit Rechten

SPD-Fraktionsvize Carsten Schneider widersprach dem in der »Thüringer Landeszeitung« - und richtete zugleich Vorwürfe gegen die Linkspartei. Diese wolle »zurück zu rein nationaler Politik und sieht sich in der Frage überein mit der politischen Rechten. In einer globalisierten Welt muss Politik international angelegt sein und agieren. Alles andere ist Rückzug ins Biedermeier der Nationalstaaten und mit aufgeklärten linken Sozialdemokraten nicht zu machen«, sagte er dem Blatt. Eine Regierung mit Linkspartei und Grünen auf Bundesebene halte er »für ausgeschlossen. SPD und Linke trennen bundespolitisch Welten«. Mit Blick auf Gysi sagte Schneider, mit ihm »hätte man sich ein solches Bündnis ansatzweise vorstellen können. Mit Sarah Wagenknecht gibt es keine gemeinsame Sprache.«

Über die Rolle nationaler Politik innerhalb der EU wird auch in der Linkspartei kontrovers debattiert – Teile halten an der Auffassung fest, es gebe angesichts des gegenwärtigen institutionellen Zustands in Europa eher Spielräume auf Landesebene. Dazu wird, was wie ein Widerspruch klingt, gern auf das Beispiel der SYRIZA-geführten Regierung verwiesen, der die europäischen Gläubiger praktisch die Fortsetzung einer Politik diktiert haben, die zu überwinden SYRIZA ja erst gewählt wurde. Auch wird immer wieder einmal in der Linkspartei rhetorisch eine Karte gespielt, die dann in den eigenen Reihen als Versuch einer Renationalisierung kritisiert wird. Zuletzt verabschiedete die »Elgersburger Runde« führender Linkenpolitiker etwa ein Papier, in dem es heißt, »die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten«.

Vor einigen Tagen hatte bereits Linksfraktionsvize Klaus Ernst in der »Frankfurter Rundschau« für »eine neue Sammlungspolitik links von der Mitte« geworben. Es sei Zeit für »die Verteidigung einer Idee: der europäische Sozialstaat, die europäische Demokratie, der europäische Frieden. Es lohnt sich, dafür von der Zuschauertribüne herab zu steigen«, sagte Ernst mit Blick auf seine eigene Partei. »Der von vielen auf die Europäische Union projizierte neoliberale Dreiklang aus Lohn-, Renten- und Sozialabbau mündet in eine Renaissance des Nationalismus. Die politische Achse hat sich nach rechts verschoben.«

Ex-Linkenchef Klaus Ernst: Es geht um alles

Ernst beklagte, dass »die Reflexion darüber in der Linken« von einer »Zuschauermentalität dominiert« werde. Es seien aber »unsere Niederlagen, die in diesen Rechtsruck gemündet haben«, so der Gewerkschafter und frühere Linkenchef. »Der Kampf, den wir nun zu führen haben, ist der gegen den politischen Rechtsruck in Europa. Die Linie, an der sich die demokratische Linke neu finden muss, ist eine Abwehrlinie. Es geht nicht darum, ob wir am radikalsten den Kapitalismus kritisieren. Es geht um alles«, so Ernst.

Die Debatte erinnert in Teilen an den »historischen Kompromiss« in Italien, eine Strategie, die ab 1973 von der dortigen Kommunistischen Partei verfolgt wurde: Angesichts der Bedrohung von rechts, zielte die von Enrico Berlinguer entwickelte Politik auf Zusammenarbeit mit den wichtigsten im Parlament vertretenen demokratischen Parteien, darunter die konservative Democrazia Cristiana und die sozialdemokratische Partito Socialista Italiano, mit denen Kompromisse gesucht wurden, um das Land vor einem Rechtsruck und einer Entwicklung in ein autoritäres Regime zu bewahren.

Klaus Ernst verlangte nun in der »Frankfurter Rundschau« mehr selbstkritische Ehrlichkeit von der Linkspartei. »Wer will es denn den Menschen verdenken, dass sie die Alternative rechts von der Mitte sehen, wenn sich links von der Mitte seit Jahrzehnten nichts tut«, so seine rhetorische Frage. Die Antwort: »Wir haben die Debatte über unsere strategische Perspektive zu lange aufgeschoben. Es ist eine Debatte, von der wir wissen, dass sie wehtut, dass sie das Gleichgewicht der Flügelkämpfer zerstört und die Frage stellt, ob es in unserer linken Biedermeierwelt noch lange so kuschelig bleibt. Wir haben die Hausaufgaben nicht gemacht, die uns die Bundestagswahl 2013 mit ihrer zufällig entstandenen rot-rot-grünen Mehrheit gestellt hat. Die hätte darin bestanden, uns darüber zu verständigen, wo die Kompromisslinien genau verlaufen, und die uns abverlangten Opfer an unsere ideologische Unversehrtheit abzuwägen gegen mögliche Haltelinien, die wir gegen den europäischen Rechtsruck einziehen könnten.«

Brie: SPD und Grüne lassen keine Hoffnung wachsen

Ernst sagte aber auch mit Blick auf Sozialdemokraten und Grüne, diese würden es »uns schön leicht« machen, »so wie wir es ihnen schön leicht machen, dass alles beim Alten bleibt«. Mit Blick auf die politischen Entwicklungen in Frankreich, Polen, Ungarn und anderswo, wo rechte Parteien aufsteigen und teils schon die Regierungsmacht übernommen haben, sagte Ernst: »Das Wasser von rechts steigt, und wie existenzbedrohlich hoch es steigen kann, zeigt der Blick auf unsere Nachbarn. Natürlich ist ein fliegender Wechsel zu einer rot-rot-grünen Bundesregierung undenkbar, leider aber auch, weil wir zu wenig dafür getan haben, eine Mitte-Links-Regierung im Bund denkbar zu machen.«

Dem widersprach ebenfalls in der »Frankfurter Rundschau« Michael Brie vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das »permanente Erstarken der Rechten« sei von »neoliberaler Politik der Allparteienkoalition« ermöglicht wurden. Von dieser Politik gehe »keine Hoffnung aus, und wo die Hoffnung verkümmert, wachsen Nationalismus und Ausgrenzung«, so der frühere Chef der PDS-Programmkommission mit Blick auch auf SPD und Grüne. »Zweitens können wir uns nicht von der Abwehrlinie aus neu erfinden«, so Brie. »Und drittens und vor allem: Es geht nicht um eine Mitte-Links-Regierung. Von denen gab es in der Europäischen Union schon viel zu viele. Mitte-Links hat die umfassende Durchsetzung des Neoliberalismus mit modifizierten Mitteln erst ermöglicht.«

Stattdessen plädierte Brie dafür, »den Kampf um wirklich linke Regierungen aufzunehmen, die die Abkehr vom Neoliberalismus einleiten«. Es gehe dabei nicht darum, dass die Linkspartei »numerisch stärkste Partei wird, sondern dass mit anderen ernsthaft und dauerhaft linke Politik gemacht wird«. Die Linke sei »eine Wahlalternative geworden, aber keine machtpolitische Alternative. Und dies darf so nicht bleiben.«

SPD und Grüne würden oft darauf verweisen, »dass es sich nicht lohne, mit der Links-Partei über eine linke Regierung zu sprechen, denn in der Außen- und Sicherheitspolitik« würde diese andere Positionen vertreten. »Der bequeme Vorwurf steht im Raum: Ohne die Linke gibt es keine Richtungswechsel, mit ihr aber auch nicht«, sagte Brie mit Blick auf SPD und Grüne. »Die Zeiten stehen auf Sturm und die Linke muss das ihr Mögliche tun, um die Offensive im Kampf für eine wirklich linke Regierung in Deutschland einzuleiten – im Bündnis mit jenen, die von unten soziale und ökologische Projekte begonnen haben. Nur dadurch wird der Vormarsch der Rechten gestoppt, wird Solidarität erneut lebbar, erhält die Europäische Union eine neue Chance.«

»Sozialismus«: Rechtsruck ist keine Bewegung der Armen

Auch in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift »Sozialismus« wird der grassierende Rechtstrend in Europa zum Thema gemacht, auch dort geht es mit blick auf die Rechtspartei AfD auch um die Entwicklung in Deutschland - und um »linke Auswege«. »Der rechte Populismus ist keine Bewegung der Armen, sondern eine Bewegung der unteren Mittelschicht in wohlhabenden kapitalistischen Gesellschaften«, heißt es in einem Beitrag von Joachim Bischoff und Bernhard Müller. »Insofern versucht dieser rechte Populismus einen Kampf um das ›verlorene Paradies‹.« Unübersehbar sei, »dass die wachsende nationalistisch-völkische Programmatik auch Teile der konservativen Parteien erreicht hat.«

Zugleich kritisieren Bischoff und Müller auch die SPD. »Völlig abgehoben und weltfremd proklamiert der SPD-Chef speziell die deutsche Sozialdemokratie als Bollwerk gegen die Rechtsentwicklung«, schreiben sie mit Blick auf Äußerungen Sigmar Gabriels auf den jüngsten Parteitag der SPD. Eine »herausragende Rolle der deutschen und europäischen Sozialdemokratie existiert nur in Gabriels Einbildung.« Bedauerlich sei überdies, »dass in vielen Organisationen der Zivilgesellschaft und dem linken Parteienspektrum eine überwiegend emotional geprägte Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus dominiert.«

Es müsse »darum gehen, die Frage des Streits um kulturelle Hegemonie als vorrangig anzusehen. Was das für die Linke in ihrer Vielfalt (Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften, Intellektuelle etc.) bedeutet, müsste zentraler Gegenstand der Überlegungen und des konkreten Handelns sein. Die Erosion der organisierten Kräfte sowie die Schwäche der von linken Organisationen in der Gesellschaft vermittelten Interpretationsmacht in der Konfrontation mit den herrschenden Kräften stellen ein schweres Handicap dar.« Es werde entscheidend sein, »ob es gelingt, gegenüber der Dynamik der radikalen Rechten nicht nur Widerstand zu organisieren, sondern auf die Frage, ob Politik Positives bewirken kann, eine neue, originelle, kreative Antwort zu entwickeln.«

Bischoff und Müller warnen indes, dass mit einigen politischen Kompromissen und Reformen bereits ein wirksames Bollwerk gegen den Rechtstrend errichtet werden könnte. »Es wäre verfehlt zu glauben, dass nur punktuelle Antworten auf die eine oder andere Frage eine Auflösung dieser gefahrenträchtigen Konfiguration bringen könnten. Es geht darum, insgesamt eine andere Logik durchzusetzen«.

Der Rahmen einer solchen politischen Wende kann nicht klein gedacht werden: Es gehe um nichts weniger als um ein »Ende der Austeritätspolitik, ein hoch aktives politisches Eingreifen, um massiv umzuverteilen, nicht nur um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, sondern auch um neue Mittel zu mobilisieren für sinnvolle Investitionen und Arbeitsplatzschaffung, bessere Löhne, öffentliche Politik, Sicherung der Sozialsysteme, Abbau der öffentlichen und privaten Schulden, Abbau der spaltenden (und Migration bzw. auch kriegerische Konflikte hervor- bringenden) Asymmetrien in Europa und im Mittelmeerraum, sowie Kooperation vorrangig mit den unterschiedlichen Regionen Afrikas.«

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