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Occupy gab uns die Zeit wieder

Der Kulturtheoretiker Mark Fisher fühlt eine Aufbruchstimmung, die nicht aus der Musik kommt

  • Lesedauer: 10 Min.
Der britische Kulturtheoretiker und Journalist Mark Fisher über Raves, Jungle und Varoufakis. In unserem Interview erklärt er, warum er einen kommunistischen Realismus fordert und den Begriff einer sozialistischen Utopie ablehnt.

Wann waren Sie das letzte Mal auf einem Rave?
Das ist schon länger her. Letztes Jahr war ich in einem Club irgendwo in Deutschland.

Es wird also immer seltener?
Ja.

Mark Fisher

Der britische Kulturtheoretiker und Journalist Mark Fisher lehrt an der Goldsmith University von London. Bekannt wurde er durch seine Bücher »Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?« und »Gespenster meines Lebens«. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der zeitgenössischen Musik. Ihm zufolge ist die Popmusik seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr innovativ, weil der gegenwärtige Kapitalismus die Menschen in ständiger Alarmbereitschaft hält. Doch die Hegemonie des Neoliberalismus hat seit der Occupy-Bewegung und dem Wahlerfolg von SYRIZA in Griechenland Risse bekommen, wie Fisher im Interview mit Simon Poelchau erklärt.

Weil Sie älter werden?
Natürlich werde ich älter. Aber die Musik ist nicht mehr so anziehend wie in den 1980ern oder 1990ern.

Was ist passiert?
Die Zeit zwischen den 1960ern und 1990ern war etwas ganz besonderes. In dieser Zeit löste kontinuierlich ein komplett neuer Musikstil den nächsten ab. In den 1970er Jahren hatten wir etwa Glamrock, Disco, Reggae, Punk, Post-Punk und ganz viel Funk. In den 1980ern kamen dann Elektro, Hip-Hop, House sowie Techno und in den 1990ern Musikrichtungen wie Jungle, Triphop, Garage oder Two Step auf. Man konnte damals sicher sein, immer wieder von neuen Stilen überrascht zu werden.

Und jetzt?
Natürlich wird es immer interessante Musik geben. Aber diese verbreitet nicht mehr die Aufbruchstimmung, die es zwischen den 1960er und 1990er Jahren mal gab. Seit Anfang der 2000er Jahre gab es nur noch sehr, sehr kleine Veränderungen.

Sie haben eines Ihrer Bücher, »Ghosts of my life« nach einem Lied des Jungle-DJ Goldie benannt. Gerade diese Musikrichtung basiert auf Elementen älterer Musikstile. Jungle ist stark vom Reggae beeinflusst und der immer wiederkehrende Rhythmus, der Amen-Break, ist nichts anderes als eine Zwei-Sekunden-Sequenz aus einem fast vergessenen Funk-Song. Was ist da also der Unterschied zu heutzutage?
Natürlich ist alles Neue immer eine Kombination aus etwas bereits Bestehendem. Es entsteht nichts Neues aus nichts. Die Frage ist jedoch, ob diese neue Kombination wirklich etwas Neues ist. Der Amen-Break ist dafür ein gutes Beispiel.

Wie meinen Sie das?
Dieser Schlagzeugrhythmus wurde im Hip-Hop bereits in den 1980er Jahren benutzt. Mit Hilfe von Samplern konnte er gestreckt, beschleunigt und zerstückelt werden. Dies ermöglichte eine ganze Bandbreite neuer Sounds aus altem Material. Jungle war etwas, das nie zuvor gehört worden war.

Und heutzutage sind die Kombinationsmöglichkeiten erschöpft?
Es ist auch eine Frage der technologischen Errungenschaften. Neue Musikstile wie Techno, House oder Jungle wurden durch Erfindungen wie Sampler und Synthesizer möglich. Dies sind Instrumente, die beeinflussen, wie Musik produziert wird. Doch die für die Musik wichtigsten technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts sind das Internet und die MP3-Player. Statt der Produktion beeinflussen sie die Art und Weise der Musikdistribution und des Konsums. Außerdem haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen fürs Musikmachen verändert.

Sie meinen das Ende des modernen Wohlfahrtsstaats?
Ja. Er gab den Menschen überhaupt erst die nötige Zeit und ökonomische Sicherheit, Musik zu machen. So kam es durch den Sozialstaat zu einer ganz neuen Verbindung der Arbeiterklasse mit den Ressourcen der sogenannten Hochkultur. Die Menschen mussten nicht alle Energie darauf verschwenden, ihre Arbeit nicht zu verlieren, weil sie immer einen neuen Job finden konnten. Und wenn sie mal arbeitslos waren, fing sie der Sozialstaat auf. Zudem erleichterten billiger Wohnraum und besetzte Häuser in Städten wie London es einem, kreativ zu sein.

Diese Freiräume gibt es heutzutage so nicht mehr.
Es ist eben nicht allein so, dass die Musikkonzerne bei ihren Künstlern nur noch auf die Kosten achten. Ein junger Mensch, der früher in London stundenlang Musik gehört und gemacht hätte, hat heute einfach nicht mehr die Zeit dazu. Das liegt zum einen daran, dass er jetzt die ganze Zeit im Stress ist, Geld zu verdienen. Zum anderen wird er ständig von Smartphones und Co. attackiert.

Was machen diese neuen Kommunikationsmedien mit uns?
Es ist zu einem Wandel in der Qualität der Zeit gekommen. Seit es Smartphones gibt, wird von einem erwartet, stets erreichbar und beschäftigt zu sein. Man muss Tausend Sachen auf einmal machen und ist in einem Zustand konstanter Alarmbereitschaft. So leben wir in einer ständigen Anspannung, in der wir uns immer gegenseitig unterbrechen. Es ist wie ein Alarm, der uns immer wieder aufschrecken lässt. Dies funktioniert vielleicht bei Aktienbrokern oder anderen Geschäftsmännern. Doch für Künstler ist dieser Zustand nicht gut.

Also ist man heutzutage sogar pessimistischer als die Punkbewegung der späten 1970er Jahre mit ihrem »No-Future«-Slogan?
Ich weiß nicht, ob Pessimismus die richtige Kategorie ist. Heutzutage gibt es einfach nicht mehr dieselben Möglichkeiten, Zeit zu erfahren. Nehmen wir zum Beispiel den Drogenkonsum der 1960er Jahre.

Was haben denn Gesellschaftsmodelle mit Drogenkonsum zu tun?
In den 1960er Jahren ging es nicht allein um Drogen. Aber das Wesentliche an den Drogen war, dass sie einem einen ganz bestimmten, paradoxen Gebrauch der Zeit ermöglichten: Auf der einen Seite konnte man in ein und demselben Moment eine wahnsinnige Intensität von Eindrücken erfahren. Zum anderen können Drogen einst unumstößliche Annahmen zerstören. Dies fängt im Rausch beim Körpergefühl und den elementaren kognitiven Leistungen an und geht bis hin zur ganzen soziokulturellen Maschinerie, die unsere Erfahrungen und Realitäten erzeugen. Drogen geben einem das Gefühl, dass nichts fix, sondern alles veränderbar ist. Diese Wahrnehmung der Verformbarkeit war meiner Meinung nach für den Optimismus in der Musik verantwortlich.

Der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis schreibt, dass die technologische Revolution uns zwei Möglichkeiten gibt: Auf der einen Seite könnten wir in einer Star-Trek-Zukunft leben, in der die Technik uns von der Arbeit befreit hat. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass wir in einer Matrix-Zukunft landen, in der wir Sklaven der Maschinen werden. Passt es nicht zu Ihrer Kulturtheorie, dass die gute Utopie eine aus den 1960er Jahren, und die schlechte eine aus der Zeit der Jahrtausendwende ist?
Die Vision, dass die Technologie uns von den Mühen der Arbeit befreit, ist zumindest etwas, das dem Optimismus der 1960er Jahre sehr nahe kommt. Und dass wir diesen Optimismus verloren haben, ist eine große Tragödie in Großbritannien.

Wie meinen Sie das?
Bereits jetzt wurden durch die Automatisierung eine Reihe von Drecks-jobs geschaffen. In den Supermärkten wurden die Kassierer durch Automaten ersetzt, die nie funktionieren, weshalb wiederum Menschen eingestellt wurden, die deren Fehler beheben. Anstatt beim Einkauf auf nette Verkäufer zu treffen, findet man nun also schlecht funktionierende Roboter vor. So werden Arbeitsplätze zerstört und anstatt anständige neue zu schaffen, wird die Prekarität und Arbeitslosigkeit erhöht und den Menschen ein schlechtes Gewissen eingeredet, weil sie keine Arbeit mehr haben.

Also hat Varoufakis mit seiner Unterscheidung zwischen der Star-Trek- und der Matrix-Zukunft recht?

Im Großen und Ganzen stimme ich ihm mit dieser Gegenüberstellung zu. Doch in Filmtiteln gesprochen, ist meine Dystopie keine Matrix-Zukunft, sondern eine des »Minority Reports«, in der aufpoppende Werbungen uns stetig unterbrechen und versuchen, unsere Aufmerksamkeit zu unterbrechen.

Francis Fukuyama mit seiner These vom Ende der Geschichte in den 1990er Jahren hatte nicht recht?
So sah es vielleicht bis vor drei Jahren aus. Die wesentlichen Transformationen kommen heute aber nicht mehr aus der Kultur, sondern aus der Politik und der Wiederentdeckung des Sozialen. Die Occupy-Bewegung gab den Startschuss. Und zwar nicht nur, weil sie den Klassenantagonismus mit ihrem Slogan der 99 Prozent wieder aufleben lies. Sie gab ihren Teilnehmern ein Gefühl der Zeit wieder, in der sie weder gestresst waren noch unter Druck standen: Oder um es mit den Worten von David Graber zu sagen: Das Beste an Occupy war, dass man Stunden über Stunden Gespräche ohne ein Ziel führen konnte.

Ist nicht das Wesen des gegenwärtigen Kapitalismus aber, dass es keine Alternative zu ihm gibt, wie Sie es in Ihrem ersten Buch »Kapitalistischer Realismus ohne Alternative« beschrieben haben?
Das Buch schrieb ich im Jahr 2008. Es gab damals keine großen antikapitalistischen Bewegungen, die etwas hätten bewegen können. Doch seitdem ist viel geschehen. Es wurde etwas wiederentdeckt, das Räume jenseits des antisozialen kapitalistischen Systems des Individualismus schafft und funktioniert. Die Superhegemonie des Kapitalismus ist gebrochen. Es wird zwar versucht, diesen kapitalistischen Realismus wieder herzustellen. Ich glaube aber, dass dies nicht mehr möglich ist. Nach 25 Jahren Stillstand sind wir jetzt wieder mitten in einem großen Umbruch. Man kann spüren, dass etwas Neues kommt.

Wie meinen Sie das?
Es ist jetzt möglich, dass Parteien wie SYRIZA in Griechenland an die Regierung gewählt werden. In Spanien gibt es Podemos und auch in Großbritannien haben wir Jeremy Corbyn. Seit seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden im September ist ein massiver Umbruch in der britischen Gesellschaft in Gang. Noch vor einem halben Jahr hätten die Menschen so etwas nicht für möglich gehalten und nun passiert es.

Wird Corbyn Erfolg haben?
Er wird wahrscheinlich besiegt werden. Doch darum geht es nicht. Es geht nicht um den einzelnen Sieg. Zeit meines Lebens - ich bin in den 1960er Jahren geboren - , wurde gesagt, dass die Linke am Ende sei. Wenn etwas passierte, dann hatte die Rechte einen Masterplan, so dass sie stets gewann. Sie erhielt ihre Energie aus der Stimmung, dass die Geschichte auf ihrer Seite sei. Doch dies ist passé. Die Rechte ist fett und dekadent geworden und kann geschlagen werden. Auch für die Linke ist es schwer, diese neue Situation zu verstehen.

Warum kommen linke Politiker dann immer mit alten Ideen an? Varoufakis etwa fordert einen New Deal. Dies ist ein 80 Jahre altes Modell eines US-Präsidenten.
Die Frage ist, was alt und was neu ist. Dem Neoliberalismus ging es in seiner Rhetorik immer darum, die Linke als veraltet darzustellen. Privatisierungen und Deregulierungen sollten gleichbedeutend mit Modernisierungen sein. Doch wohin hat dies geführt? Mittlerweile herrschen in der britischen Gesellschaft wieder dieselben Werte wie im Victorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts.

Dem Neoliberalismus ging es stets darum, linke Errungenschaften zu zerstören.
Der Neoliberalismus war ein Mittel, um Hoffnungen zu vernichten. Er machte es, indem er Gewerkschaften zerstörte oder die Menschen in eine individualistische Konsumwelt schickte. Er machte es aber auch, indem er gewählte linke Regierungen wie die von Allende in Chile stürzte.

Wie kann der Neoliberalismus endgültig besiegt werden?
Wir müssen endlich anfangen, wieder stärker zu werden. Dafür brauchen wir so etwas wie einen kommunistischen Realismus. Wir müssen sagen, dass die Zustände schlecht sind und uns fragen, wie wir sie ändern können.

Mit alten Modellen?
Ein Problem ist der ewige Leninismus. Es ist nämlich wie Franco »Bifo« Berardi einst sagte, dass es besser gewesen wäre, wenn Lenin nie gelebt hätte. Sein Nachlass hat die Linke stranguliert. Allein schon die autoritäre Vorstellung, dass eine kleine Gruppe von Menschen in einem theatralischen Akt quasi über Nacht alles ändern könnte, war immer zum Scheitern bestimmt. Diese Idee nimmt die Notwendigkeit dauerhafter Veränderungen nicht ernst genug. Stattdessen müssen wir wieder zu einem Konzept eines demokratischen Sozialismus kommen.

Warum?
Allein schon, weil es immer deutlicher wird, dass Demokratie und Kapitalismus ein Widerspruch sind. Darum sollten wir als Linke uns wieder die Frage der Demokratie aneignen. Dies ist wohl das Wichtigste, das wir jetzt in Angriff nehmen müssen.

Was noch?
Viele wichtige Bücher drehen sich derzeit um die Zukunft der Arbeit. Dabei zerstört die kapitalistische Warenproduktion die Umwelt und frustriert die Menschen zugleich. Doch wir könnten die Quadratur des Kreises schaffen, unser Leben mehr genießen und gleichzeitig weniger verschwenderisch mit unseren natürlichen Ressourcen umgehen. Nur bräuchte es dafür ein geplantes Gesellschaftssystem.

Und wie schaut diese Version einer sozialistischen Utopie aus?
Ich mag den Begriff der Utopie nicht. Er ist die andere Seite des kapitalistischen Realismus. Stattdessen müssen wir den demokratischen Sozialismus mit der Idee des luxuriösen Kommunismus verbinden. Die Idee steht für mehr und nicht weniger Genuss. Und wahren Genuss kann man durch kapitalistische Waren nicht einfach so bekommen.

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