Linkswende – aber wie?

Für ein europäisches Projekt gegen Rechts, gegen den Rückfall in nationalstaatliche Lösungen. Ein Beitrag zur Debatte von Axel Troost

  • Axel Troost
  • Lesedauer: 9 Min.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vor den Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf die wirtschaftliche und politische Stabilität Europas eindringlich gewarnt. Angesichts des immer noch hohen Flüchtlingsstroms greifen immer mehr Regierungen der europäischen Mitgliedstaaten zu Pass- und Zollkontrollen an den Binnengrenzen zu anderen EU-Ländern.

Mit der faktischen Aufhebung des Schengen-Abkommens, also ohne die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen und die Reisefreiheit, werde die Euro-Währung sinnlos, denn ohne die Inanspruchnahme dieser Freiheitsrechte brauche man keine gemeinsame Währung. Auch Bundesfinanzminister Schäuble sieht eine weitere Zuspitzung der europäischen Krise. Die eigentliche Schwierigkeit bestehe darin, dass zu viele EU-Staaten die Flüchtlingsfrage immer noch für ein nationales Problem von Ländern wie Deutschland oder Schweden hielten. Aber spätestens wenn Deutschland Kontrollen einführte, »würde jeder begreifen, dass es sich um ein gesamteuropäisches Problem handelt«.

Die Politik der Bundesregierung unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel gerät wegen ihrer Haltung, dass die Flüchtlingsfrage ein europäisches Problem ist und daher auch nur in einer gemeinschaftlichen Aktion gelöst werden kann, unter massiven Druck des rechtskonservativen Flügels ihrer Partei. Diese Kritik wird von einigen Verfassungsrechtlern (Udo Di Fabio, Hans-Jürgen Papier) unterfüttert.

Der Vorwurf eines »eklatanten Politikversagens« der Bundesregierung spitzt die kontroverse öffentliche Debatte zu. Die unbegrenzte Einreise sei ein Fehler gewesen und die Bundesregierung habe damit sowohl ihre Grenzen als auch Kompetenzen deutlich überschritten. Der Fehler der unbegrenzten Einreise beruhe nicht auf einem umzusetzenden Recht; er sei in voller Tragweite durch eine politische Entscheidung entstanden, die die Kanzlerin höchst selbst getroffen habe.

Auch führende Sozialdemokraten schließen sich mittlerweile öffentlich dieser Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin an. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil fordert von der Kanzlerin eine Umkehr in der Flüchtlingspolitik in den nächsten Monaten. »Entweder gelingt es, international die Zugangszahl zu drosseln. Oder wir müssen Dinge tun, die niemand will und die Europa schaden werden.« Sollten die EU-Außengrenzen nicht gesichert werden, würden die Binnengrenzen in Europa ein Comeback erleben.

Dieser »Stimmungsumschwung« spiegelt sich auch in den Meinungsumfragen. Eine Mehrheit der BundesbürgerInnen bezweifelt mittlerweile, dass Deutschland die Flüchtlingsproblematik bewältigen kann. Die Unionsparteien verlieren deutlich an Zustimmung und die rechtspopulistische Partei AFD kann ihre Position auf zweistellige Werte ausbauen.

Auch die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Sahra Wagenknecht, findet, dass man »zum Beispiel Frau Merkel ihre entsprechende Gutmenschen-Tour nicht durchgehen lassen darf. Ich finde es nicht lobenswert, was sie macht, ihr ›Wir schaffen das‹. Da haben ja dann auch manche Linke gesagt, ja, das ist doch ein guter Zug von ihr, dass sie sich da nicht irgendwie von der CSU oder von anderen vereinnahmen lässt und dann so eine entsprechende Politik macht. Ich finde, das ist im Kontext dessen, was sie real macht, überhaupt kein guter Zug.«

Es geht nicht darum, ob PolitikerInnen aus dem bürgerlichen Lager eine Gutmenschen-Tour inszenieren. Sondern es geht um die Bewertung, ob die EU-Mitgliedsländer mit einem europäischen Flüchtlingsproblem konfrontiert sind und ob es dafür auch eine europäische Antwort geben kann und muss. Ein Rückfall in nationalstaatliche Lösungen wäre in meinen Augen in der Tat ein historischer Rückschritt und eine gesellschaftliche Katastrophe.

In dieser Situation gewinnt die strategische Debatte in der Linkpartei an Gewicht. Der frühere Linksfraktionschef Gregor Gysi fordert meines Erachtens zu Recht, dass die Linkspartei »zusammen mit SPD und Grünen für ein linkes Projekt gegen die jetzige Entwicklung Europas und Deutschlands« streiten muss. »Die Linke hat gerade jetzt eine große Verantwortung. Sie muss begreifen, dass wir alle verlieren werden, wenn es uns nicht gelingt, ein funktionierendes, überzeugendes, linkes Projekt gegen die Rechts-Entwicklung in Europa und in Deutschland auf die Beine zu stellen.«

Ich unterstütze daher auch Klaus Ernst u.a. in der Forderung: »Heute ist es Zeit für eine neue Sammlungspolitik links von der Mitte. Ziel dieser Sammlung ist die Verteidigung einer Idee: der europäische Sozialstaat, die europäische Demokratie, der europäische Frieden. Es lohnt sich, dafür von der Zuschauertribüne herabzusteigen.«

In diesem Sinne haben sich noch eine ganze Reihe von PolitikerInnen der Linkspartei geäußert. »DIE LINKE sollte den Anspruch einer Linkswende im Land offensiv formulieren. Das ist, angesichts einer drohenden Rechtsentwicklung, die vernünftigste Entscheidung... Wer angesichts der Erfahrungen von Syriza, der portugiesischen Linken, von Podemos in Spanien oder r2g in Thüringen oder Brandenburg heute meint, dass es allemal besser sei, in Opposition zu verharren und auf gesellschaftliche Mehrheiten für was anderes zu warten, der ist heute nicht radikal links.« (Petra Sitte, Jan Korte, Olaf Miemiec, Harald Pätzolt und Tobias Schulze)

Wir sollten dieser strittigen Diskussion nicht ausweichen. Es geht allerdings nicht vorrangig um eine Frage der Regierungsbeteiligung. Sondern wir müssen inhaltlich für eine europäische Antwort in der Flüchtlingsfrage eintreten. Die Verschärfung des Asylrechtes und nationalstaatliche Aufnahmegrenzen sind keine Lösung, sondern verschieben die Probleme nur zum Schlechteren. Wir müssen vor allem eine gesamteuropäische Finanzregelung für die UN-Hilfsorganisationen und eine Unterstützung der Unterstützungsarbeit in den Krisengebieten durchsetzen sowie die außenpolitische Friedenspolitik in den Konfliktgebieten ergänzend entwickeln, wobei positive Entwicklungsschritte nicht unmittelbar zu erwarten sind.

Ich widerspreche daher Sarah Wagenknecht in ihrer Argumentation, dass uns das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie oder der europaweite Rechtstrend nicht beunruhigen muss. »Was hat den Rechtstrend europaweit in erster Linie gestärkt, oder was ist in vielen Ländern vorgefallen, in denen rechte Parteien stark geworden sind? Es ist vorgefallen, dass linke Parteien in Regierungen gegangen sind und keine linke Politik gemacht haben und deswegen sehr, sehr viele Menschen enttäuscht waren – und dann rechten Rattenfängern auf den Leim gegangen sind. Das haben wir in ganz vielen Ländern erlebt.«

Diese Argumentation greift zu kurz. Nicht die Regierungsbeteiligung ist das Problem, sondern die faktisch praktizierte Politik. Leider haben linke Parteien diesen zentralen Aspekt nicht genügend berücksichtigt. Europaweit sind wir mit einem Aufstieg der Rechtspopulisten konfrontiert. Die Parteien des bürgerlichen Lagers und der europäischen Sozialdemokratie, die überall die politischen Strukturen geprägt haben, sind gelähmt. Sie sind blockiert, weil sie keine ausreichenden Antworten haben. Beide Parteienfamilien haben keine Lösungen für das schwächelnde Wirtschaftswachstum, die wachsende Kluft in den Verteilungsverhältnissen und den Niedergang der öffentlichen Infrastruktur.

Passend zur vorherrschenden Stimmung von Zukunftsangst, Missmut und Unlust ist eine zunehmende Zahl von WählerInnen bereit, Rechtspopulisten eine Chance zu geben. Ja, vor allem Teile der unteren Mittelschichten befürchten, dass sie durch die höheren Ausgaben für Flüchtlinge und die verschärfte Konkurrenz um Wohnungen, Bildungsangebote und letztlich Arbeitsplätze zu kurz kommen könnten. Wenn wir keine tragfähigen europäischen Antworten bekommen, dann zerfällt Europa und dies ist der Beginn einer nationalstaatlich unkontrollierbaren Abwärtsspirale.

In Worten von Juncker: »Wenn das alles zusammensackt, dann wird der wirtschaftliche Preis und der Verlust an Wachstum und die Beschädigung einer europäischen Wachstumsperspektive enorm sein.« Es kann eine europäische Antwort auf den Zustrom der Flüchtlinge geben und auch unser nationalstaatlicher Beitrag muss nicht auf eine Benachteiligung der Armen und unteren Mittelschichten zugunsten der Flüchtlinge hinauslaufen.

Die Linke kann und muss zum Motor eines Politikwechsels werden, der mehr ist als ein Regierungswechsel. Im Zentrum eines linken Reformprogramms steht der Kampf um ein qualitatives Wachstum, um ein umfassendes öffentliches Investitionsprogramm und um ein »neues Normalarbeitsverhältnis«: Arbeitszeit muss gerechter verteilt werden und jede/r muss von ihrem/seinem Lohn gut leben können. Das ist kein Verzichtsprojekt, in dem die Beschäftigten mit »weniger« auskommen sollen, sondern ein Projekt der Umverteilung – von Zeit und von Profiten.

Es ist unbestritten schwierig, einen Politikwechsel einzuleiten und ihn dann gegen die Eliten und gesellschaftlichen Hindernisse umzusetzen. Und ist nicht doch Griechenland ein Gegenbeispiel? In Griechenland steht die SYRIZA-Regierung in der Tat enorm unter Druck. Viele der Reformschritte, die die Linksregierung unter Führung von Alexis Tsipras auch unter dem Druck der internationalen Geldgeber umsetzen muss, sind insoweit unvermeidlich, weil der gesellschaftliche Reproduktionsprozess hart am Rand des ökonomisch-gesellschaftlichen Zusammenbruchs stand.

Ich folge daher auch hier nicht der Einschätzung, dass die Linke seit dem Maastricht-Vertrag oder der Lissabon-Strategie keine europäische Handlungsoption mehr hat. Sarah Wagenknecht argumentiert: »So, wie der Euro konstruiert wurde, war er bewusst konstruiert, Lohndumping in Euro-Europa zu befördern. Das war der Hintergrund und war kein Zufall und kein Nebenprodukt. Und das bedeutet aber natürlich für Europa: Wir haben nicht nur deshalb neoliberale Politik in Europa, weil wir neoliberale Regierungen haben, das ist nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass wir auch deshalb neoliberale Politik haben, weil wir neoliberale Verträge und neoliberale Institutionen etabliert haben, die jetzt auch Regierungen, die eigentlich was anderes wollen, Vorschriften machen können und davon auch weidlich Gebrauch machen. Wir haben es doch alle in Griechenland erlebt. Also, in Griechenland ist ja nun der Beweis erbracht worden, dass man heutzutage für Staatsstreiche keine Panzer mehr braucht, sondern dass es reicht, wenn man Mario Draghi an seiner Seite hat und die Banken. So kann man im Grunde eine Regierung wirklich völlig auflaufen lassen. Und das heißt natürlich auch, und ich finde, darüber müssen wir als Linke diskutieren, wenn wir über die Aufgaben von Linken in Europa und Deutschland diskutieren: Es gibt ohne einen Plan B in Europa derzeit keine linke Politik.«

Griechenland ist das am stärksten von der Flüchtlingskrise betroffene EU-Land und braucht die Unterstützung Europas, wenn es unter diesen Belastungen nicht untergehen soll. Die Forderungen nach finanzieller Entlastung, vor allem der Inseln in der Ägäis, und der Entsendung von Grenzschützern konnte die Linksregierung nicht durchsetzen. Wenn Griechenland der EU bei der Steuerung der Flüchtlinge helfen soll, dann braucht es technische und finanzielle Hilfe, und einen merklichen Schuldenerlass. Dies würde mit Sicherheit größere Spielräume schaffen, die nötigen Reformen umzusetzen.

Trotzdem will die deutsche Regierung Griechenland wegen der Flüchtlingskrise keine Abkehr von seinem mit der Euro-Zone vereinbarten Sanierungskurs erlauben. »Wir können hier keinen Rabatt geben«, sagte der Sprecher des deutschen Finanzministeriums. Die Reform-Vereinbarung enthalte bereits viele Möglichkeiten zur Flexibilität. In dieser Situation kann gleichwohl eine Linksregierung nicht resignieren oder in bloße Mängelverwaltung verfallen. Griechenland hat wegen der neoliberalen Sparauflagen und wegen der Fluchtbewegung immense Schwierigkeiten. Aber eine Verschärfung der Aufnahmepraxis oder nationalstaatliche Obergrenzen wären keine Antwort. Alexis Tsipras erklärte daher zu Recht: Um aus der Krise zu kommen, gebe es keine »magischen Lösungen«.

Aber es gilt trotz neoliberaler Hegemonie Deutschlands für eine gemeinsame Lösung zu kämpfen. Wenn also die Aufforderung für einen Plan B bedeutet: Wir sollten den Niedergang und Zerfall der europäischen Währungs- und Wirtschaftsunion begrüßen und unseren Ausweg in einem nationalstaatlichen Neustart suchen, dann verweise ich auf die These des griechischen Finanzministers Euclid Tsakalotos, der bei seinem Besuch letzte Woche in Berlin bei einem Gespräch mit mir die Formel prägte, die eben nicht nur für Griechenland gilt: »Wir hatten die Wahl zwischen einem Memorandum im Euro-System oder einem Memorandum außerhalb des Eurosystems. Letztere Option hätte millionenfaches Leid und Perspektivlosigkeit bedeutet. Daher haben wir die europäische Option gewählt und werden in kürzeren Zeitabständen über unsere Fortschritte Auskunft geben.«

Axel Troost ist finanzpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und Vizevorsitzender der Linkspartei. Sein Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift »Sozialismus«.

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