Entwicklung heißt Widerstand

Yash Tandon über die Ursachen von Armut, Welthandelsstrukturen und Strategien zum Gewinn von Spielraum

  • Lesedauer: 6 Min.

Die acht Millenniumsentwicklungsziele (MDG) sind mit bescheidenem Ergebnis ausgelaufen, nun sollen bis 2030 die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) angegangen werden. Sehen Sie darin einen Fortschritt?

Nein. Das Rahmenwerk, das sowohl zu den MDG als auch den SDG führte, ist keines, das Entwicklung umfassend denkt. Es wird im Mikrobereich angesetzt, obwohl das Problem im Makrobereich besteht: Das Problem ist das globale System. Es wird überhaupt nicht reflektiert, warum es Armut gibt, wie sie systematisch erzeugt wird, sondern nur, wie sie auf Mikroebene gemildert werden kann. Armut ist ein Resultat von massenhafter Ausbeutung von Arbeitern und natürlicher Ressourcen zugunsten der Profite von multinationalen Unternehmen. Das müsste angegangen werden, wenn Armut wirklich bekämpft werden sollte. Das stand und steht aber nicht zur Debatte, weder bei den MDG noch bei den SDG.

Yash Tandon

Yash Tandon ist ugandischer Wirtschaftswissenschaftler. Er war Dozent an mehreren Universitäten und ehemals Direktor des South Centre in Genf. Zudem ist er Mitbegründer von SEATINI, einer freihandelskritischen Nichtregierungsorganisation mit Büros in Harare, Nairobi und Kampala. In diesen Rollen war und ist er langjähriger Analyst und politischer Aktivist. Sein jüngstes Buch trägt den Titel »Trade ist war« (Handel ist Krieg). Mit ihm sprach für »nd« Martin Ling.

Warum wird das Problem nicht angegangen? Die SDG wurden von allen 193 UNO-Staaten verabschiedet und damit auch von den Staaten des Globalen Südens. Sind auch die Eliten des Globalen Südens unwillig, die Armut zu bekämpfen?

Das System der Vereinten Nationen sieht vor, dass Entscheidungen über Verhandlungen erreicht werden. Das ist die diplomatische Realität. Diese Realität hat manchmal wenig mit der konkreten Realität vor Ort in den Ländern des Globalen Südens zu tun. Die indische Regierung weiß um das Ausmaß der Armut dort, die Regierung in Uganda weiß ebenfalls um das Ausmaß der Armut dort. Sie versuchen dieses Problem unter den gegebenen Umständen so gut anzugehen, wie sie es vermögen. Indien sieht da besser aus als Uganda. Das liegt daran, dass Uganda quasi überhaupt keinen politischen Spielraum hat. Ugandas Staatshaushalt hängt am Tropf von Geberstaaten aus dem Norden und bei Investitionen hängen sie von ausländischen Unternehmen ab. Was sollen sie dann in der UNO tun? Sie verhandeln ohne Optionen. Deswegen bestimmt der Norden in der UNO, was beschlossen wird. Der Süden kann bestenfalls Zusätze durchsetzen, aber die Kerninhalte werden vom Norden vorgegeben.

Asymmetrische Verhandlungsmacht liegt auch den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) zugrunde, die die EU mit den Staaten in Afrika, der Karibik und im Pazifik (AKP) unter Dach und Fach gebracht hat oder noch zu bringen versucht, oder?

Da liegen Sie richtig. Auch da haben die Regierungen der AKP-Staaten keinen Spielraum. Die EU arbeitet die Texte aus. Die Texte basieren auf der Agenda der EU. »Global Europe« heißt die seit 2006 propagierte Strategie der EU, die Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten zu stärken. Dabei geht es beispielsweise um Freihandel und die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, Schutz des geistigen Eigentums der eigenen Seite. Diese Themen sind gesetzt. Verhandelt wird hauptsächlich in Brüssel zwischen mächtigen EU-Experten und AKP-Personal, das sowohl materiell als auch was Verhandlungskapazität angeht, viel schlechter ausgestattet ist. Dementsprechend sehen die Resultate dann aus, die die Regierungen im Süden als akzeptable offizielle Verhandlungsergebnisse verkaufen. Das Machtgefälle bei den EPA-Verhandlungen ist sogar noch größer als innerhalb der UNO, wo die Staaten des Globalen Südens mit Allianzen in der Generalversammlung wenigstens Resolutionen durchsetzen können. Die EPA-Verhandlungen sind ein total ungleicher Kampf: Da stehen sich unabhängige EU-Geberstaaten und abhängige AKP-Empfängerländer gegenüber.

Wenn es so wenig politischen Spielraum für den Globalen Süden gibt, wie lässt sich dann die Unterentwicklung überhaupt angehen? Ist zivilgesellschaftlicher Widerstand die einzige Option?

Es gibt zwei Ebenen, an denen es anzusetzen gilt. Die eine Ebene ist in den Ländern des Globalen Südens selbst und die andere eben auch im Globalen Norden. Im Süden gibt es eine Veränderung durch die BRICS-Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Durch die BRICS-Staaten besteht zwar nicht die Möglichkeit, das UN-System zu reformieren - es ist unreformierbar - auch nicht seine Sonderorganisationen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF, d. Red.) und die Weltbank, aber sie schaffen ein Gegengewicht durch eigene Strukturen. Ein Beispiel ist die von China initiierte asiatische Infrastrukturbank (AIIB). Damit wird auch kleineren Staaten neuer Spielraum eröffnet, weil sie für Kredite sich nicht den Bedingungen des IWFs unterwerfen müssen, sondern auch zur AIIB gehen können.

Die zweite Ebene ist die der Zivilgesellschaft. Ihr wurden in den vergangenen Jahren auch viele Versprechen seitens der Regierungen gemacht. Im Gegensatz dazu hat sich die Lage in den meisten Ländern verschlechtert vor allem infolge der durch den IWF auferlegten Strukturanpassungsprogramme. Die EU macht sich im Moment Sorgen wegen der nach Europa kommenden Flüchtlinge. Man sollte diese knapp 1,5 Millionen Zufluchtsuchende 2015 mal den 50 bis 100 Millionen Afrikanern gegenüberstellen, die ihre berufliche Existenz durch die Austeritätsprogramme verloren haben. Darüber gibt es keine Debatte in Europa. Selbst in Deutschland wird nicht ernsthaft darüber diskutiert, dass Handel Krieg ist und die Menschen in die Flucht treibt und nicht nur Kriege an sich. Der Welthandel, wie er derzeit organisiert ist, ist Krieg.

Wie kann der Süden da dagegenhalten?

Die Strategie besteht in der Selbstorganisation der Zivilgesellschaft, um die Regierungen des Südens unter Druck zu setzen. Und auf der anderen Ebene gibt es eine Verantwortung der progressiven Teile im Norden, die in der Lage sind, unsere Sorgen zu artikulieren. Teilweise sind diese Gruppen im Norden sogar ziemlich stark geworden. Was in Griechenland nun passiert, der gesellschaftliche Zerfall infolge eines Austeritätsprogrammes, kennen wir in Afrika seit 30 Jahren. Bisher hatte auch die europäische Linke weitgehend die Austeritätsbedingungen ausgeblendet, unter denen Afrika seit Jahrzehnten leidet. Durch Griechenland verändert sich die Wahrnehmung in Europa. Das ist gut für uns, das ist gut für die Debatte.

Wie sehen Sie die Strukturen in der Welthandelsorganisation (WTO)? Aus meiner Sicht sind sie das größte Hindernis für nachholende Entwicklung im Globalem Süden, da sie den geschützten Aufbau eigener Wertschöpfungsketten verhindern.

Die WTO-Ministerkonferenz im Dezember in Nairobi brachte nichts Neues. Wir haben unsere Sorgen auf den Tisch gebracht, aber wir wussten, dass die Machtverhältnisse gegen uns sind. Nichtsdestotrotz stellen wir weiter unsere Forderungen nach einer gerechten Welthandelsordnung. Die WTO ist eine total undemokratische Körperschaft. Die Entscheidungen werden zwar per Konsens verkündet, aber das, was verkündet wird, wird hinter den Kulissen am WTO-Sitz in Genf ausgehandelt. Da geben die mächtigen, die sogenannten QUAD-Länder USA, Japan, die EU und Kanada eindeutig den Ton an. Die BRICS-Staaten haben zwar an Einfluss gewonnen, können aber keine Kehrtwende bewirken. Sobald es um das Festschreiben von Abkommen geht, regiert die rohe Gewalt: Ihr wollt Entwicklungshilfe, ihr wollt Erdöl? Unterzeichnet oder es gibt nichts. Diese Erpressungsstrategie funktionierte bei allen WTO-Gipfeln mit Ausnahme von Seattle 1999 und Hongkong 2003.

Kurzfristig sind das schlechte Aussichten, was geht langfristig?

Das ist für uns eine große Herausforderung. Die langfristige Strategie besteht für uns darin, dass die Macht schließlich in die Hände der Bevölkerung übergehen muss. Derzeit wird die Welt von einer Elite regiert, dem reichsten Prozent der Weltbevölkerung, das die Multis und Institutionen kontrolliert. »Die Macht den Menschen« ist nicht nur ein Slogan. Dafür müssen die Institutionen grundlegend demokratisiert werden. Und bis dahin bleibt uns nur zu widerstehen: Wir widerstehen der WTO, wir widerstehen EPA, wir widerstehen dem Empire. Der Widerstand hat die kolonialisierten Länder in die formale Unabhängigkeit gebracht. Entwicklung heißt Widerstand.

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