Radioaktive Stoffe mit dem Bagger verteilt
Strahlenforscher Georg Steinhauser über einen fahrlässigen Unfall zwei Jahre nach dem GAU in Fukushima
Sie haben ermittelt, dass bei Erdarbeiten auf dem Areal des havarierten AKW Fukushima im August 2013 gewaltige Mengen radioaktiven Cäsiums freigesetzt wurden. Was ist dort genau passiert?
Im August 2013 wurden Aufräumarbeiten in und rund um den Reaktor Nr. 3 durchgeführt. Hierbei wurde schweres Gerät verwendet, um kontaminiertes Erdreich und Geröll zu beseitigen. Leider wurden im Zuge der Baggerarbeiten beträchtliche Staubmengen erzeugt und vom Wind weg getragen - und der Staub war durch den Unfall vom März 2011 mit großen Mengen radioaktiver Stoffe kontaminiert. Wir schätzen die dabei freigesetzte Menge an Cäsium-137 auf 300 Milliarden Becquerel.
Wo und wie konnten Sie dies überhaupt messen?
Wir haben gemeinsam mit japanischen, amerikanischen und Schweizer Kollegen bald nach dem Unfall im Jahr 2011 Luftfilter installiert: einen nördlich, einen westlich und einen südlich des Atomkraftwerks. Im August 2013 hat die nördliche Messstation außergewöhnlich hohe Konzentrationen an radioaktiven Stoffen aufgezeigt. Das war die Initialzündung für unsere Untersuchungen. Anhand meteorologischer Modellrechnungen konnten wir zeigen, dass die Quelle dieser Belastungen wahrscheinlich ein Ort am Kraftwerksgelände war. Aus diesen Modellierungen hat sich auch die Abschätzung von 300 Gigabecquerel ergeben.
Eine unvorstellbare Zahl, wenn man sie mit den Grenzwerten für Trinkwasser vergleicht. In der EU gilt ein Wert von 100 Becquerel pro Liter …
Und trotzdem sind die 300 Milliarden Becquerel nur etwa ein Fünfzigtausendstel der Gesamtmenge an Cäsium-137, die im Zuge des Unfalls freigesetzt wurde. Das klingt zwar nicht viel, aber ein Fünfzigtausendstel einer enorm großen Menge ist immer noch mehr als beachtlich.
Haben sie weitere radioaktive Stoffe festgestellt?
Nachdem uns die Modellierungen verraten haben, wo wir suchen müssen, sind wir in die betroffene Gegend nördlich des Reaktors gefahren, um dort zusätzlich Bodenproben zu nehmen. Dort, wo wir die höchsten Werte erwartet hatten, sind wir tatsächlich fündig geworden: Das Erdreich war auch mit relativ hohen Mengen an Strontium-90 belastet. Das war verwunderlich, weil Strontium-90 weniger flüchtig ist als Cäsium, folglich in viel geringerem Ausmaß freigesetzt wurde und nach dem Unfall zumeist nur in unmittelbarer Kraftwerksnähe gefunden wurde. Das war ein weiterer Indikator dafür, dass der Staub tatsächlich vom Kraftwerksgelände stammte.
Auch Arbeiter sollen im fraglichen Zeitraum mit größeren Mengen Radioaktivität kontaminiert worden sein. Was wissen Sie darüber?
Das war ein Ausgangspunkt unserer Arbeiten. Nachdem unsere Messstation im Norden des AKW Auffälligkeiten gezeigt hat, haben meine japanischen Kollegen die Presseaussendungen von Tepco in jener Woche genau studiert. Dabei haben sie festgestellt, dass für mehrere Arbeiter hohe Belastungen durch radioaktiven Staub gemeldet wurden. Daraufhin war die Arbeitshypothese unserer Studie, dass beide Ereignisse, also die Radioaktivität in der Luft bei unserer Messstation und die Meldung hoher Belastungen am Gelände des AKW, auf die gleiche Ursache zurückgehen: die Erdarbeiten bei Reaktor Nummer 3.
Welche Versäumnisse werfen Sie dem AKW-Betreiber Tepco in diesem Zusammenhang vor?
Tepco sind in der Vergangenheit oft Dinge vorgeworfen worden, für die das Unternehmen nicht ursächlich verantwortlich war. In dem von uns erfassten Fall sehe ich allerdings ein ganz klares Versäumnis von Seiten des Reaktorbetreibers, weil einfache Schutzmaßnahmen offensichtlich nicht beachtet wurden. Man hätte bei den Arbeiten die Staubentwicklung durch Planen oder sonstige Maßnahmen eindämmen und auf günstigeres Wetter warten können. Wenn der Wind den Staub Richtung Meer geblasen hätte, wären die unmittelbaren Folgen für die Menschen der Umgebung wesentlich geringer gewesen. Besonderes Pech war, dass der Wind den Staub nach Norden in die Stadt Minamisoma trug, die trotz der geringen Distanz zum AKW Fukushima von etwa 15 Kilometern zuvor weitgehend unkontaminiert geblieben ist. Minamisoma war auch einer der ersten Orte, die nach den Evakuierungsmaßnahmen wieder freigegeben wurden, sodass die Bevölkerung in ihre Häuser zurückkehren durfte. Und nachdem diese Leute besonderes Glück unmittelbar nach dem Unfall hatten, hatten sie nun das besondere Pech, zum Opfer einer vermeidbaren Fahrlässigkeit zu werden.
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