Nicht weniger als die Unendlichkeit
Hendrikje Warmt befördert die Begeisterung für den eigenwilligen Impressionisten Karl Hagemeister aus Werder
Wie die Obstbäume blühen, Schneetreiben gleichendes Schwirren in der Frühlingssonne! Licht! Licht! Licht! - Auf der Havel-Insel Werder kleidet nach den ersten drei meist trüben Monaten des Jahres die Natur die Baumkronen in zartrosa gerandetes Weiß und bietet sich zu einem einzigartigen, überwältigenden, beglückenden Schauerlebnis an. Die Stadt Werder in Brandenburg feiert es alljährlich mit dem Baumblütenfest: eine halbe Million Besucher in ein paar Tagen, mit süffigem Obstwein mehr auf Lärm und Lustigsein gestimmt denn auf besinnliches Genießen der Blütenpracht. Wenn das Spektakel vorbei ist, wird noch immer schwer vorstellbar sein, was einst einen Künstler zeit seines Lebens an Werder band: die Stille.
»In Reflexion der Stille« hat die Kunsthistorikerin Hendrikje Warmt ihr Buch über den Maler Karl Hagemeister genannt, der heute Ehrenbürger der Stadt ist. 1848 wurde er als Sohn eines Obstbauern geboren, lebte, von einigen Studienaufenthalten in Holland, Frankreich, Italien abgesehen, bis zu seinem Tode 1933 in Werder und dem nahe gelegenen und ebenso weltabgeschiedenen Ferch, war Fischer und Jäger - was ihm den bescheidenen Lebensunterhalt am ehesten sicherte. Seiner früh erkannten Begabung entsprechend, betrieb er Studien der Landschaft, mit Pinsel und Stift, die meisten seiner Schaffensjahre als Maler in seiner havelländischen Heimat.
Er erkundete - viele Jahre gemeinsam mit seinem langjährigem Freund Carl Schuch, der ihm anfangs ein Lehrmeister war - die Möglichkeiten der Malerei, auch im Stillleben, schuf Porträts, beobachtete Bäuerinnen bei der Arbeit. Vor allem studierte er Landschaftsformationen sowie Naturerscheinungen. Sein zweitliebster Arbeitsort: die Insel Rügen. Da blitzt der Sanddorn auf vor schwarz-grauer sturmbedrängter Buche an der Steilküste bei Lohme. Da gewinnen Wolken einen Wettkampf im Fliegen gegen die Möwen. Wie Wind und Wasser Wogen formen in unablässigem Wechsel, das ewige Faszinosum - er bannte es wieder und wieder auf die Leinwand. Auf jedem Bild ist ein anderer Moment eingefangen.
Jedes dieser Werke, aus denen heraus es tost, plätschert, knistert, knarrt oder säuselt, wo es duftet oder modrig riecht, und auf denen immer wieder neu Jahreszeit, Tagesstunde und Wetter gespiegelt sind, enthält das »seelische Erlebnis« und ist, wie »jede große Kunst«, ihr »Ausdruck« - so wurde Hagemeisters Ansicht überliefert. Als heutiger Betrachter vor solch einem Werk stehend kann man es mitempfinden als wäre man gleichsam der optische Zwilling des Freilichtmalers mitten in der Natur.
Fast 600 Gemälde sind es, die Hendrikje Warmt, in jahrelanger Recherche und teils mit detektivischem Spürsinn aufgefunden, in das Werkverzeichnis des Mitbegründers der Berliner Sezession aufgenommen hat. Pastelle, Aquarelle, Zeichnungen und Skizzen konnten nicht aufgelistet werden in dem gut 500-Seiten-Band, der neben Hagemeister-Monografie samt historischer Fotos ein Ausstellungs- und Literaturverzeichnis sowie Selbstaussagen in Tagebüchern, Briefwechsel, Selbstbiografie und Gespräch mit seinem Schüler Siegward Sprotte enthält. Bislang mag Hagemeister weniger als seine Zeitgenossen und Akademie-Rebellen Max Liebermann oder Lovis Corinth, Walter Leistikow oder Max Slevogt beachtet worden sein. Spätestens durch diese Gesamtschau erschließt sich der herausgehobene Rang des Künstlers. Ebenso wird die Verbindung Person - Werk deutlich.
Wicken vorm Dünensand, Wiesen im Nebel, Birken im herbstlichen Goldglitzer, Seerosen im Teich. Roter Mohn reckt sich aus grünem Feld, als wolle er den Himmel küssen. Das stimmungsvolle Ausschnitthafte, »ein kleines Stück Natur«, in das sich der Maler »ganz und unablässig vertieft«, genügt ihm, »darin die Unendlichkeit« zu finden. Die der Malerei, die der menschlichen Empfindungen. Seltener Fall, in dem Genügsamkeit zum Großen führt.
»Nie habe ich im Atelier gemalt! Nie habe ich in meinem Leben aufgehört, die Natur zu studieren! 42 Jahre lang habe ich einsam in ihr gelebt, um sie immer tiefer und gründlicher kennenzulernen. Ich wollte wissen, wie die Natur ist, um nachher ihren Schein umso besser geben zu können. Das war mein Grundsatz!«, äußerte er als konsequenter Landschafter in späten Lebensjahren. »Um das Urteil der Menschen und die Meinung der Kunstkritiker habe ich mich nie gekümmert. Merken auch Sie sich das: die Kunstkritiker sind alle Schwätzer!«, soll er gesagt haben.
Wenngleich ein wissenschaftliches Werk, das Sammlern, Kunsthändlern, Auktionatoren zur Vergewisserung dienen wird, kann doch dem großzügig bebilderten und ansprechend gestalteten Werkverzeichnis - das erste überhaupt über Hagemeister - zweifelsfrei entnommen werden, was der Künstler ohne jegliche Selbstüberhebung in folgende Worte fasste: »Wenn ich nun mein Lebenswerk betrachte«, schrieb Hagemeister 75-jährig, »bin ich still zufrieden. Denn ich habe keine Akademie besucht, kein Vorbild gehabt, keine Richtung verfolgt, sondern mich nur durch die Naturstudien weiterentwickelt. So ist meine Kunst nur Natur und Hagemeister wird die Zeiten überdauern.«
Hendrikje Warmt: Karl Hagemeister - In Reflexion der Stille. Monographie und Werkverzeichnis. be.bra verlag, 528 S., über 800 Abbildungen, geb., 48 €.
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