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»Norma«: Kein Zaubertrank, nirgends

An der Staatsoper Unter den Linden verlegt Vasily Barkhatov »Norma« in eine Fabrik in Zeiten der Diktatur – in Erwartung des kommenden Aufstands

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.
Auch du, Arbeiterin Norma? Vasily Barkhatov setzt Bellini an der Staatsoper Unter den Linden in Szene.
Auch du, Arbeiterin Norma? Vasily Barkhatov setzt Bellini an der Staatsoper Unter den Linden in Szene.

Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Ja, ganz Gallien! Jedenfalls in Vincenzo Bellinis Oper »Norma«, der Tragedia lirica in zwei Akten. Einzig die gallische Druiden-Hohepriesterin Norma gibt den von den Römern unterdrückten Galliern Hoffnung auf einen Aufstand. Doch Norma ist unselig verstrickt – mit ihrem Liebhaber Pollione, dem römischen Statthalter, unterhält sie, Keuschheitsgelübde hin oder her, eine Liebesbeziehung, aus der zwei Kinder stammen.

Als Pollione sich von ihr ab- und einer neuen Geliebten, Adalgisa, zuwendet, einer Novizin ebenfalls mit Keuschheitsgelübde, und Norma davon erfährt, droht sie, die gemeinsamen Kinder zu töten, und facht aus persönlichen Gründen das unterdrückte Volk zur ersehnten Revolte gegen die Besetzer an. Doch schließlich offenbart sie sich und ihren Verrat und endet auf dem Scheiterhaufen, samt dem aufs Neuerliche von der Liebe zu ihr entbrannten Prokonsul Pollione.

Vasily Barkhatov hat in seiner »Norma«-Inszenierung an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, einer Koproduktion mit dem Musik-Theater an der Wien, die auch an die New Yorker Met wandern soll, die römische Besatzung Galliens in einen politischen Systemwechsel vor circa 100 Jahren umgewandelt. Norma ist hier Vorarbeiterin (die man allerdings nie arbeiten sieht) in einem dunklen Overall in einer Keramikfabrik und lebt im angeschlossenen Arbeiter*innenwohnheim samt ihren beiden Kindern, die sie vor der Öffentlichkeit zu verstecken sucht.

Diese aktualisierte Grundkonstellation bietet Gelegenheit zu neuen Fragen, führt aber auch zu etlichen Unstimmigkeiten und Konstellationen, die jeglicher Logik widersprechen. Warum zum Beispiel sollten die Vorarbeiterin und eine weitere Arbeiterin einer Fabrik im 20. Jahrhundert Keuschheitsgelübde abgelegt haben? Im Original versteht man das sofort, als Priesterin darf Norma nun mal keine Liebesbeziehungen unterhalten und schon erst recht keine Kinder bekommen. Aber als Arbeiterin?

Barkhatov rettet sich in die Behauptung, dass Norma die altmodische Vertreterin einer archaischen Religion sei, die an der modernen Wirklichkeit scheitert. Einerseits vertritt sie also religiöse und gewissermaßen ideologische Werte, andererseits hält sie sich nicht an die selbst aufgestellten Regeln und macht der Gesellschaft, die vermutlich längst moderner und aufgeklärter ist, nicht nur etwas vor, sondern belügt ihre Mitmenschen ebenso wie ihren Ex und dessen neue Geliebte. Barkhatov entwickelt diesen Grundkonflikt zum Kern seiner »Norma«: Ihre Lüge wird zum großen Problem, an dem sie letztlich scheitert.

Während der Ouvertüre sehen wir die Keramikfabrik, in der religiöse Plastiken en masse hergestellt werden. Dann stürmen Soldaten und andere Vertreter einer neuen Macht herein und vernichten die christlich-religiösen Statuen. Es beginnt der erste Akt, zehn Jahre später: In der Fabrik werden jetzt ausschließlich Büsten des neuen Herrschers hergestellt; hierfür hat eine KI die Köpfe verschiedener Diktatoren des 20. Jahrhunderts zu einer sozusagen gesamt-autoritären Fantasiegestalt verschmolzen, deren Gesicht an eine Mischung aus Himmler und dem Strelnikow aus der Doktor-Schiwago-Verfilmung erinnert.

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Die Stimmung in der Fabrik ist auf eine bräsige Art gedrückt. Normas Vater foppt zwar mitunter die Aufpasser, zieht dann aber sofort zurück. Man hat eher nicht das Gefühl, dass die Arbeiter*innen einem Aufbruchsignal, gar einem Schlag gegen die Diktatur entgegenfiebern. Alle scheinen auf Norma zu warten. Warum eigentlich? Weil sie aus ein paar Bruchstücken einer vor zehn Jahren zerstörten religiösen Plastik irgendetwas zu erkennen vermag? Wäre sie die gallische Seherin, würde das Sinn ergeben; von einer Vorarbeiterin in einer Fabrik darf man dagegen im Idealfall eher Handfestes erwarten, Aufrührerisches gar, statt irgendwelcher Weihrauchfantasien.

Im ersten Akt ist die berühmte »Casta Diva«-Arie zu hören, »keusche Göttin« also, »die du diese heiligen alten Bäume (ähem, ein letztes Mal sei daran erinnert: Wir sind doch in einer Keramikfabrik?) in Silber tauchst«. Rachel Willis-Sørensen kann sich in ihrem Rollendebüt als Norma natürlich nicht mit Maria Callas messen, die diese Partie zwischen 1948 und 1965 geradezu imperial und auf jeden Fall einzigartig beherrschte. Aber gerade in dieser Arie sind gewisse Überforderungen zu bemerken: Ihre Interpretation der nicht nur für dieses Werk, sondern für das Standing, die Bedeutung des Gesangs in der Oper überhaupt zentralen Arie ist keine zauberische Beschwörung, die sich gelassen ganz den »langen, langen, langen Melodien« (Verdi über Bellinis »Norma«) hingibt. Erkennbar hat Rachel Willis-Sørensen Mühe, die Höhen »weich« und ohne erzwungenes Dauervibrato zu nehmen, generell wenig zu atmen und damit Bellinis Längen magisch erklingen zu lassen.

Die anderen Szenen, vor allem aber die Duette, Terzette und die Szenen mit dem Chor, liegen ihr deutlich mehr; und gerade der Schluss, als sie nach heftigem Seelenkampf ihre Schuld an der Malaise mit einem einfachen »Son io« (»Ich bin es«) auf einem simplen C-Dur-Akkord zugibt, ist ein in seiner Schlichtheit bewegender Moment.

Doch zunächst muss Norma die zu vagem Aufruhr bereiten Arbeiter*innen beschwichtigen. »Es sind die Tage eurer blutigen Rache noch nicht erschienen«, singt sie, »der Römer Wurfgeschosse sind dem gallischen Beil noch viel zu mächtig.« Kein Zaubertrank, nirgends. Immer wieder geht es um den richtigen Moment des Zuschlagens. Franz Josef Degenhardt hat solche Momente in seiner Ballade von dem Bauernführer Joß Fritz geschildert, einer »Legende vom richtigen Zeitpunkt«: »Lasst nicht die roten Hähne flattern, ehe der Habicht schreit«.

Barkhatovs Norma allerdings hat nicht kluge, realpolitische Gründe für ihr Zögern. Sie weiß, dass ihre Lüge, ihr Betrug, auffliegen würde, wenn es zur Revolte gegen das System und mithin gegen Pollione, den Vater ihrer Kinder und führenden Vertreter der Obrigkeit, kommen sollte. Erst als Norma erkennt, dass Pollione mit ihrer Kollegin Adalgisa angebandelt hat und diese mit nach Rom nehmen möchte, ändert sie ihre Haltung: Jetzt will sie grausame Rache für seinen Verrat, jetzt erwägt sie, ihre Kinder umzubringen, um ihrem Ex-Lover den größtmöglichen Schmerz zu bereiten, und jetzt wiegelt sie plötzlich ihre Kolleg*innen auf, den Aufstand zu wagen – aus persönlicher Berechnung, nicht aus gesellschaftlicher Verantwortung.

Das Besondere an Bellinis Oper und auch an Barkhatovs Inszenierung ist, dass Norma nun nicht etwa wahnsinnig wird. Im romantischen Musiktheater wäre das die naheliegende »Lösung«, nicht aber bei Bellini. Wagner, der Bellini und insbesondere dessen »Norma« über die Maßen schätzte, begriff das Stück als »Seelengemälde dieser wilden Seherin, die wir alle Phasen der Leidenschaft bis zur Resignation des Heldentods durchdringen sehen«. Und genau das erleben wir nun: Die zentrale Szene, in der Norma von Polliones Techtelmechtel mit Adalgisa erfährt (und diese davon hört, dass Pollione mit Norma zwei Kinder hat – es ist eine für alle drei ungeheure Aufdeckung), ist ein Höhepunkt von Oper wie Inszenierung. Die drei singen gleichzeitig ihre sehr unterschiedlichen Texte, »wie unter Schock, und der Tonfall der Musik ändert sich alle paar Takte« (Barkhatov). Nicht unwesentlich zum Gelingen dieses herzberührenden Terzetts trägt Elmina Hasan bei, die die Mezzosopran-Partie der Adalgisa stimmlich in allen Schattierungen wie schauspielerisch einzigartig meistert.

Letztlich wird glaubwürdig, warum sich Norma offenbart, ihre Lüge zugibt und erkennt, dass sie sich schwach zeigen darf, ohne Stärke zu provozieren, wie es bei Marcuse heißt. Die Celli spielen con dolore dazu, also »mit Schmerz«. Und wenn Norma am Ende neben Pollione sitzt, dessen Kopf sie gerade mal so eben aus der Schlinge gezogen hat (seine Hände allerdings lässt sie gefesselt), sich eine Zigarette anzündet und sie mit ihrem Ex teilt, ist da kein großes Drama, vielmehr herrschen Resignation und Melancholie.

Bei Bellini findet das alles nicht in exaltierten Wendungen der handelnden Figuren, sondern in der Musik statt, die er sehr genau dem jeweiligen Wortsinn anpasst (anders als der von Metternich und den konservativen Claqueuren der Nach-Beethoven-Zeit so geschätzte Rossini). Hier ist Gesang eine »Kategorie nachschöpferischer Genialität« (Ulrich Schreiber). Harmonie und Rhythmus sind eher banal, wir kennen das von Rockmusik oder Techno. Aber die Ausbalancierung von Bewegung und Ruhe in Bellinis Musik ist eben »einfach grandios« (noch mal Wagner). Und die erodierenden Klangwellen, derer sich Bellini im späten e-Moll-Arioso bedient, weisen gar auf das Finale von Wagners »Tristan und Isolde« voraus.

Die Belcanto-Fans unter den Neokons werden bei Bellini nicht simpel bedient, und die Belcanto-Verächter müssen sich von Wagner bereits 1837 anherrschen lassen, dass sie in Bellinis »Norma« eben »wieder nur den gewöhnlichen italienischen Klingklang hören wollen«. Doch in dieser Oper steckt mehr. Dirigent Francesco Lanzillotta begreift sie in der Nachfolge Cherubinis und Beethovens und als Vorgängerin Wagners; leider vermag er ausgerechnet die Staatskapelle Berlin nicht so recht zum Leuchten zu bringen.

Am Ende verzichtet Barkhatov auf den »Liebestod« des Paares: Die Flammen im Brennofen der Fabrik sind bereits zu erkennen, aber Pollione reißt Norma gegen ihren Willen zurück. Die Beziehung ist gescheitert, das Leben jedoch geht weiter. Ob es noch zum Aufstand kommen wird?

Nächste Vorstellungen: 16., 21. und 26. April
www.staatsoper-berlin.de

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