«Für Biermann wird laut genug geredet»

Sturmschäden: Wie Künstler und Kirche auf die Ausbürgerung reagierten. Teil XII der nd-Serie über die DDR 1976

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Ausbürgerung Biermanns hatte Folgen: nicht nur im Widerspruch so vieler renommierter Künstler, sondern auch innerhalb der Kirche, die zum Ort oppositionellen Denkens wurde.

Von Kurt Hager ist aus jenen Tagen das Zitat überliefert: «Ich denke, dass die Ausbürgerung Biermanns die Fronten klärte und wie ein reinigendes Gewitter wirkt.» Nun, ein Gewitter, zumal ein reinigendes, gilt allgemein als ein komplexer meteorologischer Vorgang, auf die der Mensch erst einmal keinen Einfluss hat. Da kommt ordentlich was herunter - und das Leben geht danach weiter wie gewohnt.

Nicht so beim Novemberunwetter des Jahres 1976: Die Sturmschäden für die DDR-Kultur - der Exodus so vieler bekannter Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller - erwiesen sich als irreparabel.

Karsten Krampitz

Die Serie will sich in einer multiperspektivischen Sichtweise auf die DDR versuchen: Staat und Gesellschaft sollen nicht gleichgesetzt, nicht verklärt und schon gar nicht dämonisiert werden. Am Beispiel eines einzigen Jahres – 1976 – soll vom Leben und Alltag in diesem Land berichtet werden. Der Übergang von Ulbricht zu Honecker war mehr als ein Personenwechsel. Nicht wenige Künstler und Intellektuelle empfanden sogar so etwas wie eine Aufbruchstimmung. Ein Aufbruch, der jedoch spätestens 1976 umschlug in Verbitterung und Resignation.

In der Literatur und Publizistik wie auch in der Forschung zur DDR-Geschichte wurde diesem Jahr bislang immer nur soweit Beachtung geschenkt, als dass es sich um den Zeitraum der Biermann-Ausbürgerung handelte. 1976 war aber auch das Jahr, in dem Michael Gartenschläger an der Grenze erschossen wurde; in Zeitz übergoss sich Pfarrer Brüsewitz mit Benzin und zündete sich an; der IX. Parteitag der SED beschloss ein neues Programm und Statut; Honecker wurde Staatsratsvorsitzender, der Palast der Republik wurde eröffnet, die DDR wurde Fußballolympiasieger etc. Und immerhin 15 168 Bürgerinnen und Bürger verließen das Land in Richtung Westen. Die Republik befand sich in einer schweren Krise.

Karsten Krampitz’ Buch zur Serie »1976« erscheint im Februar im Berliner Verbrecher Verlag. Diskussionsveranstaltungen (unter anderem in Berlin) sind in Planung, die Termine werden rechtzeitig bekannt gegeben. Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf bei Berlin geboren. Er hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften studiert und über »Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976« promoviert. In Klagenfurt wurde er 2009 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Er arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Publizist.

Mit dem Medienecho im Westen hatten Erich Honecker, Hager und die anderen Spitzengenossen gerechnet. Womit man im Politbüro aber nicht gerechnet hatte, war der Widerspruch so vieler renommierter Künstler. Eine solche Solidaritätsbekundung hatte es bis dahin in der DDR noch nie gegeben.

Ein offener Brief

Einen Tag nach Bekanntwerden der Ausbürgerung empörten sich am 17. November 1976 zwölf Schriftsteller und ein Bildhauer in einem Offenen Brief: «Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter - das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat (…) müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.»

Erstunterzeichner der Petition waren Stephan Hermlin, Volker Braun, Gerhard und Christa Wolf, Stefan Heym, Heiner Müller, Jurek Becker, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Erich Arendt, Rolf Schneider, Franz Fühmann und Fritz Cremer. Ihrer Unterschrift schlossen sich in den folgenden Tagen weitere Künstler an - darunter die Schauspieler Manfred Krug und Armin Müller-Stahl.

Wie die Literaturwissenschaftlerin Astrid Köhler schreibt, war die Ausbürgerung Biermanns «das entscheidende Stück zu viel im Anziehen der kulturpolitischen Daumenschraube». Stefan Heym bemerkte damals treffend: «Wir haben Angst, dass sich das Ausbürgern in der DDR einbürgern könnte.»

Und genau genommen war Biermann auch nicht der erste Fall: Kurt Scharf, dem EKD-Vorsitzenden und «Bischofsverweser» für die Region Ostberlin und Brandenburg - alles andere als ein «kalter Krieger», vielmehr ein bedächtiger Kirchenmann, der sich in den Achtzigerjahren mit der Aktion Sühnezeichen für die Versöhnung mit Polen engagierte -, war unmittelbar nach dem Mauerbau die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Das gleiche Schicksal teilte die Schriftstellerin Helga M. Novak, die 1966 ihrer regimekritischen Texte wegen kurzerhand ausgebürgert wurde.

Also nicht die Ausbürgerung war neu, sondern die Solidarität mit dem Ausgebürgerten. Klaus Schlesinger erinnerte sich später, er habe von dem Rauswurf Biermanns «auf einer Fete» erfahren. «Es war ein Schock, und ich betrank mich fürchterlich. Aber mir war klar, es musste etwas gemacht werden. Gleich am nächsten Morgen, als ich meinen Sohn zum Kindergarten brachte, ging ich, verkatert und voller Wut, zu Sarah Kirsch. Diese habe dann gesagt, er »sollte noch warten, sie sei zu Hermlin bestellt. Der wolle was machen, und sie würde dann gleich Bescheid sagen. Am Nachmittag brachte sie den Text der Petition, ich rief Uli Plenzdorf an, er kam mit seiner Frau gegen fünf, und dann haben wir ein paar Stunden gesessen und über eine eigene Erklärung diskutiert. Ich weiß, ich hatte widersprüchliche Gefühle. Einerseits passte mir der Ton nicht so ganz. Zu viel Bitte, zu wenig Protest. Außerdem störte mich das Elitäre an dem auserwählten Kreis. (…) Andererseits war da die Achtung, der Respekt vor den Personen dieser Runde. Hermlin und Heym waren für mich ganz wichtige Männer. Oder Christa Wolf. Oder Franz Fühmann. Kurz und gut: Wir haben uns auf einen einzigen solidarisierenden Satz geeinigt, weil wir verhindern wollten, dass die Macht eine Resolution gegen die andere ausspielt und die Protestierer damit spaltet. Am nächsten Morgen sind wir dann losgefahren und haben Unterschriften gesammelt.«

Widerspruch und Widerruf

Dem Initiator des Protestes, Stephan Hermlin, war die Eigendynamik der Resolution schon bald unangenehm. Er, der auf Drängen Honeckers seine Unterschrift wieder zurückgezogen hatte (wie der Bildhauer Fritz Cremer auch), den Widerruf aber bald schon wieder widerrief, erklärte auf der Parteiversammlung des Berliner Schriftstellerverbandes am 23. November 1976 über das Zustandekommen der Liste: »Ich weiß nur von diesen zwölf Namen. Bei mir haben auch nachher vier- oder fünfmal Leute angerufen und sagten, sie sind für diesen Aufruf, sie möchten ihren Namen darunter setzen. Ich habe ihnen gesagt: ›Es ist keine Kampagne. Es ist ein Brief mit zwölf Unterschriften und nichts weiter.‹ Ich habe dann erfahren von den Schauspielern, mit denen ich noch nie ein Wort gewechselt habe.«

Vermutlich wird unter den Kulturschaffenden der Unmut über die Ausbürgerung des Liedermachers noch weit größer gewesen sein, als es die Zahl der Unterschriften, am Ende über hundert, vermuten lässt. Allerdings hatte Biermann unter seinen Kollegen eben nicht nur Freunde. Der Theaterregisseur Manfred Wekwerth, der spätere Intendant des Berliner Ensembles und Präsident der Akademie der Künste der DDR, spricht in seinen Erinnerungen von einer »ziemlichen Differenz zwischen Begabung und Charakter«. Von diesem Widerspruch berichten auch andere, der Sänger Reinhard Lakomy zum Beispiel, Gisela Steineckert oder auch Stephan Hermlin. Auf der besagten Parteiversammlung erklärte er: »Ich habe mich von Anfang an als ein verständnisvoller Freund zu Biermann verhalten und habe versucht, ihn an die Öffentlichkeit zu bringen, weil ich an sein Talent glaubte, weil ich ihn vorzeigen wollte. Das persönliche Verhältnis hat sich so entwickelt, dass ich seit 1965 kein Wort mehr mit ihm gesprochen habe. Das lag nicht an mir, sondern er sprach nicht mehr mit mir. Er hat mich so behandelt, wie er jeden seiner Freunde behandelt hat, weil er offensichtlich seine Freunde als Feinde bezeichnet, wenn sie nicht bedingungslos billigen, was er macht. Ich entdecke auch heute noch eine große Begabung, auch heute noch Schönheiten und Wahrheiten, aber sie ersticken unter einem Wust von hasserfüllten wahnwitzigen Ausflüchten.« - An diesem Punkt wenigstens sollte Biermann sich treu bleiben.

Beginn einer Erosion

Der viel zu früh verstorbene Klaus Schlesinger lebte in der festen Überzeugung, dass in jenen Tagen der spontan sich organisierende Künstlerprotest so etwas wie einen geistigen Erosionsprozess eingeleitet habe, der dann 14 Jahre später zur Implosion des SED-Machtapparats führte. Ganz Unrecht hat er nicht.

Der Protest im Lande beschränkte sich bei weitem nicht nur auf die sakrosankte Oberschicht der DDR-Bohème. Wie der Historiker und Journalist Heribert Schwan recherchiert hat, wurden zwischen dem 17. und 21. November 1976 im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung 40 Menschen von der Volkspolizei und dem MfS »zugeführt«; gegen 18 von ihnen wurden Ermittlungsverfahren wegen staatsfeindlicher Hetze sowie Staatsverleumdung eingeleitet, 14 dieser Verfahren endeten mit einer Haftstrafe.

Auch aus der Kirche meldete sich Protest. In einer Petition an Honecker, unterschrieben von zwei Pfarrern und sechs Gemeindegliedern aus dem Raum Wettin im Saalkreis, hieß es laut einem Fernschreiben der MfS-Bezirksverwaltung Halle:

»sehr geehrter herr staatsratsvorsitzender, wir haben die geschehnisse um wolf biermann verfolgt. wir möchten uns nicht zu dem aeussern, wass (sic!) biermann gesagt oder gesungen hat. wir sind bestuerzt darueber, dass ein buerger der deutschen demokratischen republik, der in unserem lande leben will, seine staatsbuergerschaft verliert zu einen zeitpunkt, da er sich nicht auf dem gebiet der ddr befunden hat. es schadet dem ansehen unseres staates, wenn eine so schwerwiegende entscheidung ohne ruecksprache mit dem betroffenen gefaellt wird. wir bitten sie, darauf hinzuwirken, dass diese menschlich sehr harte entscheidung noch einmal ueberprueft wird. hochachtungsvoll.«

Wie viele solcher Briefe damals geschrieben wurden, lässt sich nicht mehr ermitteln. Im sächsischen Meerane, Kreis Zwickau, organisierte ein Pfarrer Ende November ein Protestschreiben an die »so genannte Volkskammer« mit insgesamt neun Unterzeichnern. Das Schweigen von Albrecht Schönherr, dem Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes, sorgte an der Kirchenbasis für Unruhe und mancherorts auch für Zorn. So auch am Katechetischen Oberseminar in Naumburg, der Kirchlichen Hochschule der Kirchenprovinz Sachsen: Am 21. November 1976 wandten sich 41 Theologiestudenten mit einer Petition an Schönherr. Ein Brief, der es in sich hatte: Man erwarte »eine öffentliche Erklärung zu dem Verhalten der entsprechenden DDR-Behörden«. 41 junge Menschen, die ihren Berufsweg noch vor sich hatten und mit ihrem Abschluss außerhalb ihrer Kirche nirgendwo im Land Anerkennung finden würden - sie verglichen allen Ernstes das Schweigen des Bundes der Evangelischen Kirchen der DDR mit dem Schweigen der Kirche im Dritten Reich. In ihrem Brief zitierten die Studenten Karl Barth: Eine Kirche, die nie Partei ergreife und zu allem schweige, sei »zum stummen Hunde geworden«. - Starker Tobak! Die Kopie eines ähnlich lautenden Protestschreibens an den Staatsrat aber, mit dem Absender des Katechetischen Oberseminars Naumburg, sucht man in den Kirchenakten vergeblich. Soweit wollten die Naumburger Pfarrstudenten in ihrem Aufruhr dann doch nicht gehen.

Die Reaktion der Kirche

Manfred Stolpe, damals Generalsekretär des DDR-Kirchenbundes, empfand die Petition als arrogant. In einer Aktennotiz schrieb er über den theologischen Nachwuchs in Naumburg: »Immerhin ist hier ein sehr hohes Ross erkennbar!«

Wie auch immer: Der Brief der Studenten trug dazu bei, dass sich die Kirchenoberen dann doch noch zu einer Meinungsbildung bemüßigt fühlten. In einer knappen Aktennotiz schrieb Schönherr an Stolpe: »Für Biermann wird laut genug geredet. Für die Schriftsteller wollen wir einiges tun: Sie lesen. Sie zitieren. Sie einladen.« - Mit anderen Worten: Zu Biermann auch in Zukunft keine Stellungnahme, dafür aber Solidarität mit den Künstlern, die gegen seine Ausbürgerung protestiert hatten.

Und so geschah es dann auch. Stefan Heym, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner und andere fanden fortan in der Evangelischen Kirche ein aufmerksames Publikum. Eine historische Weichenstellung: Dass in den Räumen der Kirche eines Tages eine kritische Gegenöffentlichkeit entstehen sollte, in der sich Menschen jeden Alters und aller Berufe, Christen und Nichtchristen über die Probleme ihres Landes austauschen konnten - diese Entwicklung hatte, das dokumentiert die Schönherr-Notiz, ihren Ursprungsimpuls im Protest der Künstler gegen die Biermann-Ausbürgerung.

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